Wednesday 15 August 2012

Kinder sind keine Tyrannen, sie werden dazu gemacht

Warum werden aus so vielen lernbegierigen Kindern in wenigen Jahren Schulschwänzer und Klassenclowns? Weil unsere Schulen nur noch Lernfabriken sind, die Schüler und Lehrer verbiegen.




Am Samstag konnte man sie in Berlin wieder auf den Straßen sehen: die kleinen Kinder mit ihren großen Schultüten und den noch größeren Augen. Mir wird immer etwas weh ums Herz, wenn ich die Erstklässler auf dem Weg zur Einschulung sehe. Sie sind so freudig aufgeregt, so stolz, so lernbegierig. Und binnen weniger Jahre, oft noch viel, viel schneller, wird die Schule es schaffen, aus so vielen von ihnen Problemkinder zu machen: Demotivierte, Faule, Schulschwänzer, Klassenclowns, Mathehasser, Sportversager, Unmusikalische und so weiter.

Man kritisiert die Schule oft als Lernfabrik. Aber eine Fabrik, die so viel Ausschuss produziert, hätte man längst geschlossen, statt sie zu subventionieren, wie wir es tun. Genau das empfiehlt übrigens der dänische Moralphilosoph und Erziehungsratgeber Jesper Juul. Die Schulen sollte man fünf Jahre lang schließen und den Lehrern die Möglichkeit geben, das zu lernen, was ihnen bisher niemand beigebracht habe: wie man mit Schülern, Eltern, Vorgesetzten und miteinander redet.

Daran musste ich denken, als mir eine Schulsekretärin erzählte, was sie nach dem ersten richtigen Schultag der Kleinen am Montag erlebte. Die aus den Klassen kommenden Lehrerinnen fragte sie, wie es gewesen sei, was sie gemacht hätten.

Die erste antwortete: "Es war schön. Wir haben gesungen und gemalt. Ich bin völlig erledigt, aber glücklich." Die zweite: "Na, Unterricht habe ich gemacht. Die sollen gleich merken, dass Schule Stress bedeutet." Die dritte: "Das Schlimme ist, wir geben die nach zwei oder drei Jahren ab, da sind sie halbwegs zu Menschen geworden, und dann kriegen wir wieder diese Monster und müssen von vorn anfangen."
Man kann davon ausgehen, dass eine Lehrerin, die den Kindern beibringen will, dass Schule Stress bedeutet, ihr Lehrziel sehr schnell – vielleicht schon am ersten Tag – erreichen wird, und dass die Schüler ihr auch immer Stress machen werden. Man kann davon ausgehen, dass eine Lehrerin, die Monster erwartet, auch immer wieder Monster bekommen wird. Und dass nicht nur viele Kolleginnen, sondern auch viele Eltern ihr recht geben werden.

Die zwei erfolgreichsten Erziehungsbücher der letzten fünf Jahre waren:

Wer Kindern als potenzielle Tyrannen begegnet, denen nur mit Disziplin beizukommen ist, wird nicht enttäuscht. Entweder werden ihm die Kinder auf der Nase herumtanzen, oder er wird sie mit Angst in Schach halten.

Dass es grundsätzlich anders ginge, wird er weder in dem einen noch in dem anderen Fall erfahren. Und bald kommt auch Ursula Sarrazin mit ihrem Buch "Hexenjagd", mit dem sie bestimmt vielen Lehrerinnen aus dem Herzen spricht. "Wir Lehrer können nicht alle gesellschaftlichen Defizite beheben", schreibt sie. "Schule ist damit überfordert."

Gewiss doch. Freilich musste Schule immer schon "gesellschaftliche Defizite beheben", sonst wäre sie zwar nicht überfordert, aber überflüssig. Freilich muss die Gesellschaft die Defizite beheben, die erst die Schule hervorgerufen hat: Lernunlust, Leistungsscheu, Wissenslücken, mangelndes Selbstvertrauen, Hass auf Autoritäten. Wer Kinder als potenzielle Träger gesellschaftlicher Defizite sieht, wird ja auch nicht enttäuscht. Oder wie es das deutsche Sprichwort weiß: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.

Die Kinder, die ich am Samstag sah, sind nicht defizitär. Sie sind keine kleinen Tyrannen. Möglicherweise sind sie nicht alle so, wie sie die Schule gern hätte. Aber das spricht nicht notwendig gegen die Kinder. Und auch nicht gegen die Lehrer. Die Schule macht sie genau so fertig wie die Kinder, mit denen sie eingesperrt werden. Sie sind, um die Fabrik-Analogie noch einmal zu bemühen, wie Arbeiter, die ein Auto bauen sollen, aber weder einen Plan noch Werkzeug haben. Denn Lehrpläne sagen etwas übers Fach aus, nichts über Kinder.

Ab und zu aber gibt es eine Sternstunde. So sagte ein Junge nach seinem ersten Schultag: "Das war ganz nett. Ich komme morgen wieder." "Das freut mich", sagte die Lehrerin. Und sie meinte es auch so.


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