Saturday 28 April 2012

Hartz IV und die Menschenrechte

11.02.09
Franz Segbers 



Ende Oktober 2008 urteilte das Landessozialgericht Darmstadt, dass die Hartz-IV-Regelsätze für Familien weder mit der Menschenwürde noch mit dem sozialen Rechtsstaat vereinbar sind. Die Regelsätze deckten nicht das „soziokulturelle Existenzminimum von Familien“ und verstießen gegen
das Grundgesetz. Fünf Jahre nach Inkrafttreten der Hartz-IV-„Reform“ zum 1. Januar 2004 hat das Landessozialgericht daher das Bundesverfassungsgericht angerufen, über die Verfassungsgemäßheit der Regelsätze für Familien zu befinden.(1) Dieses Grundproblem ist Eingeweihten jedoch schon länger bekannt.

Bereits bei der Gesetzesberatung hatten die Bundesausschüsse für Arbeit und Sozialpolitik wie für Frauen und Jugend empfohlen, der Regelsatzverordnung nicht zuzustimmen, da „es sich offensichtlich um willkürliche Setzungen“ handele.(2) Die Sozialrechtlerin Helga Spindler kritisiert an der Regelsatzverordnung: „Das Existenzminimum wurde unter Negierung der bisherigen statistischen Erkenntnisse über notwendige Lebenshaltungskosten unter das Sozialhilfeniveau abgesenkt.“(3) Diese Absenkung ist offensichtlich kein Versehen, sondern politische Absicht. Mehr noch: Sie macht den Kern der „Agenda 2010“ aus – und beschädigt die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes und grundlegende Menschenrechte.

Hartz IV und Agenda 2010 stehen für eine Pfadverschiebung des Sozialstaates in Richtung angelsächsisches System. Diese „Reformen“ haben erstens die bisherige sozialstaatliche Logik der Bedarfsdeckung in eine Logik der Grundversorgung umgepolt. Zweitens wurde der bisherige sozial aktive Sozialstaat in einen aktivierenden Sozialstaat umgeformt, in dem das Grundrecht auf sinnvolle Arbeit in einen Zwang zur Arbeit verkehrt wurde und jede Arbeit als zumutbar gilt. Beide Aspekte haben eine Umkehr in der deutschen Sozialstaatsentwicklung bewirkt.

Staatlich verordnete Unterversorgung

Wenn Einkommensarmut der empirischen Messung zugänglich gemacht wird, heißt dies noch nicht zwangsläufig, dass daraus auf Eindeutigkeit und Objektivität geschlossen werden kann. Was Armut ist und wie viel Armut es in Deutschland gibt, vermag eine empirische Messung der Armutsquote nicht hinreichend darzustellen. Was gemessen wird, ist lediglich das Maß von Einkommensungleichheit. Eindeutiger sind da die gesetzlichen Definitionen zur Verhinderung von Armut. So sah das Bundessozialhilfegesetz die Zielsetzung der Sozialhilfe darin, „dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht“ (§ 1 Abs. 2). Sozialhilfe sei so zu bemessen, dass eine gesellschaftliche Teilhabe zumindest auf bescheidenem Niveau sichergestellt wird und dadurch Ausgrenzung und Armut verhindert werden. Sie stellt deshalb keine relative, sondern eine absolute Größe dar, die ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe angibt und sich am Maßstab der Menschenwürde ausrichtet.

Von dieser normativen Orientierung hat sich die Politik verabschiedet. Das Arbeitslosengeld II (ALG II) wird auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe berechnet, die alle fünf Jahre erfolgt. Referenzgruppe sind die unteren 20 Prozent der Haushalte. In ihrem Gutachten für das Landessozialgericht Darmstadt kommt Irene Becker zu dem Ergebnis, dass die Unterdeckung für eine dreiköpfige Familie etwa 150 Euro ausmacht. Diese Unterdeckung wird dadurch erzeugt, dass „bei der derzeitigen Ermittlung der Eckregelleistung teilweise nicht sachgerecht verfahren wird, so dass sie systematisch zu gering bemessen wird, dass aber eine Anhebung der Eckregelleistung allein nicht ausreicht, um den Bedarf von Familien zu decken.“(4) Der systematische Fehler liegt darin, dass Kinder wie „kleine Erwachsene“ behandelt werden. Ohne auf deren spezifische Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen, wird der Kinderregelsatz mit 60 bzw. 80 Prozent des Erwachsenenregelsatzes angesetzt. (5) Dadurch bleiben „die Möglichkeiten sozialer Teilhabe für Familien mit den ihnen gewährten Regelleistungen gemäß SGB II hinter ihrem Bedarf zurück.“(6) Nach Studien des Dortmunder Forschungsinstituts für Kinderernährung gesteht der Regelsatz Schulkindern nur die Hälfte der Summe zu, die für eine gesunde Ernährung notwendig ist. Tatsächlich bräuchten demnach 7- bis 13jährige etwa 65 Euro und 14- bis 17jährige 85 Euro monatlich mehr.(7)

Obgleich die Bundesregierung in ihrem zweiten Konjunkturpaket vom Januar 2009 den Regelsatz für Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren um 35 Euro anhebt, bleibt dessen Höhe also immer noch deutlich unter dem tatsächlichen Bedarf. Auch Untersuchungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes belegen, was die Betroffenenverbände bereits lange betonen: ALG II und Sozialhilfe schützen weder vor Armut, noch garantieren sie das soziokulturelle Existenzminimum. (8) Das mit dem Sozialgesetzbuch II eingeführte ALG II ist offensichtlich keineswegs bedarfsdeckend. Kurz: Hartz IV ist staatlich verordnete Unterversorgung. Immer mehr Menschen sehen sich deshalb gezwungen, ihre Lebensmittel bei sogenannten „Tafeln“ zu besorgen.(9)


Sozialstaat und Menschenrechte

Die Diskussion über die Regelsätze wird bislang sozial- und verfassungspolitisch geführt, allerdings kaum im Zusammenhang mit Menschenrechtsverpflichtungen. Das mag auch damit zu tun haben, dass die Menschenrechtsdebatte ihre Aufmerksamkeit vornehmlich auf internationale Verpflichtungen richtet und auf diese Weise oft die nationalen Rechtspflichten vernachlässigt. Die Bundesrepublik ist durch die Verfassung und internationale Abkommen an die Wahrung von Menschenrechten gebunden, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 festgelegt sind. Zudem enthält der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 in Artikel 11 das Recht auf „ausreichende Ernährung, Bekleidung und Unterbringung“. Zwar ist die Frage, ob und in welchem Umfang die Vertragsstaaten verpflichtet sind, diese Rechte auch aktiv zu erfüllen, weiterhin umstritten. Fest steht jedoch, dass sie für die Umsetzung der Menschenrechte eine zentrale Rolle besitzen.

Der Grund der Menschenrechte liegt in der menschlichen Würde. Aus dem Würdegebot und dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes folgt dabei, dass jeder in Würde leben können muss – mit und ohne Arbeit. Ethischer Charakter und rechtliche Gestalt der Menschenrechte gehören zusammen. Teilzuhaben am Leben der Gesellschaft ist ein menschliches Grundbedürfnis und deshalb auch ein Grundrecht. Staatlich verordnete Unterversorgung verletzt dieses Teilhaberecht. Erich Fromm nennt „dieses Recht auf Leben, Nahrung und Unterkunft, auf medizinische Versorgung, Bildung usw. ein dem Menschen angeborenes Recht, das unter keinen Umständen eingeschränkt werden darf, nicht einmal im Hinblick darauf, ob der Betreffende für die Gesellschaft ‚von Nutzen ist‘.“(10)

Ähnlich formulierte das Bundesverfassungsgericht: „Das Gebot des sozialen Rechtsstaats ist in besonderem Maße auf einen Ausgleich sozialer Ungleichheiten zwischen den Menschen ausgerichtet und dient zuvörderst der Erhaltung und Sicherheit der menschlichen Würde, dem obersten Grundsatz der Verfassung.“ Dazu gehört der Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums und das Recht auf die „Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben“.(11) Das Bundesverwaltungsgericht hat dies konkretisiert als Recht auf ein „soziokulturelles Existenzminimum, das den Leistungsberechtigten nicht nur das zum Lebensunterhalt Unerlässliche gewährt, sondern sie in die Lage versetzen soll, in der Umgebung von Nichthilfeempfängern ähnlich wie Personen mit geringem Einkommen leben zu können.“(12)

Ein weiterer Umstand kommt verschärfend hinzu: Die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes macht nicht Halt vor Menschen ohne deutschen Pass, die sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes aufhalten. Wenn nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ein reduzierter Regelsatz in der Höhe von 224,64 Euro und für Haushaltsangehörige und Kinder deutlich niedrigere Sätze zur Anwendung kommen, handelt es sich um eine politisch aus Abschreckungsgründen vorgenommene Verschärfung – und um einen eklatanten Verstoß gegen menschenrechtliche und verfassungsrechtliche Bestimmungen. Hartz IV gewährleistet allenfalls das nackte Überleben unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums. Da der Hartz-IV-Regelsatz eine angemessene Ernährung nicht gewährleistet, wird in der Bundesrepublik das Menschenrecht auf ausreichende Ernährung nicht garantiert – und damit verletzt. Dies ist auch der Kern der eingangs zitierten Auffassung des Landessozialgerichts Darmstadt, dass die zu geringen Regelsätze der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes widersprechen. Diese Verfassungswidrigkeit ist allerdings, so muss man hinzufügen, nicht allein sozialpolitisch oder verfassungsjuristisch zu bewerten, sondern stellt auch eine Menschenrechtsverletzung dar.


Teilhabe als demokratisches Grundrecht

Wenn aber ein politisch festgelegter Regelsatz den Anspruch auf ein selbstbestimmtes, menschenwürdiges Leben verhindert, ist mit den Menschenrechten auch die Demokratie gefährdet. Wenn Regelsätze oder Transferleistungen nicht armutsfest sind, dann ist dies der Hinweis darauf, dass die rechtliche oder politische Ordnung so verfasst ist, dass die Rechte und die Freiheit des Individuums nicht verwirklicht werden können. Menschenrechtspolitik drückt sich auch in armutsfesten und armutsverhindernden Regelsätzen aus. Dem Anspruch auf ein Leben in Würde und Teilhabe wird der bestehende Hartz-IV-Regelsatz deshalb nicht gerecht.

Eine Gesellschaft der gerechten Teilhabe schafft für alle ihre Mitglieder Chancen der Verwirklichung und der Beteiligung. Dabei sollte als Grundprinzip gelten, was die Kirchen in ihrem gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialwort von 1997 einforderten: „Nur was die Lage der Schwächeren bessert, hat Bestand. Bei allen grundlegenden Entscheidungen müssen die Folgen für die Lebenssituation der Armen, Schwachen und Benachteiligten bedacht werden. Diese haben ein Anrecht auf ein selbstbestimmtes Leben, auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und an den gesellschaftlichen Chancen sowie auf Lebensbedingungen, die ihre Würde achten und schützen.“(13)

Die Chance zu eigenverantwortlichem Handeln setzt voraus, dass Menschen dann, wenn ihre eigenen Kräfte nicht ausreichen, auf gesellschaftliche Solidarität vertrauen können. Eine Gesellschaft der Beteiligung ermöglicht den Menschen, das eigene Umfeld durch politische Beteiligung mitzugestalten. Armut ist deshalb nicht allein ein Mangel an Einkommen, sondern immer auch ein Mangel an Sicherheit und politischem Einfluss. Anders formuliert: Armut ist immer auch ein Defizit an Macht, politischer Gestaltungsmöglichkeit und Beteiligungschancen; Arme sind zugleich Bürger, denen es an Beteiligungsrechten, Freiheitsrechten und politischem Einfluss fehlt. Wenn die Armen sich auf angemessene Weise gesellschaftlich und politisch beteiligen könnten, dann gäbe es ihre Armut vermutlich nicht. Armut indiziert deshalb immer auch ein Versagen der Demokratie. Umgekehrt ist Armutsverhinderung eine Frage gesellschaftlicher Macht. Deshalb schuldet die Gesellschaft den Armen auch mehr als nur materielle Hilfe – nämlich die Umverteilung von Macht und Einfluss. Schließlich haben arme Menschen nicht nur einen Anspruch auf Unterstützung, sondern auch auf Teilhabe und Beteiligung.

Der Bezug auf die Menschenwürde in Paragraph 1 des Bundessozialhilfegesetzes fehlt in Paragraph 1 des SGB II; stattdessen wird „Fordern und Fördern“ zur Aufnahme jeder zumutbaren Arbeit als Ziel definiert. Dieses Ziel indiziert den Übergang von „welfare“ zu „workfare“, also die Verschiebung staatlicher Leistungen weg von der Gewährung materieller Hilfen hin zu einem Tauschgeschäft: Sozialhilfe gegen Arbeitsbereitschaft. Dem Recht auf staatliche Unterstützung soll die Pflicht zur Gegenleistung entsprechen.

Wenn Grundrechte in Tauschverhältnisse überführt werden, findet aber eine massive Entrechtung statt. Diese Umformung sozialer Rechte ist menschenrechtlich höchst problematisch. Denn das Vertrags- oder Tauschmodell „Leistung nur bei Gegenleistung“ rückt an die Stelle der Anspruchsberechtigung. Recht aber ist der Modus, paternalistische Gnadenpraktiken zu überwinden. Ein Recht schafft erst einen Anspruch, und zwar gleichermaßen für alle. „Ein Recht an sich ist jedoch nicht verhandelbar. Es muss respektiert werden.“(14) Das Prinzip „Leistung und Gegenleistung“ etabliert dagegen ein Tauschdenken, das übersieht, dass es Bürgerrechte und eben auch soziale Rechte gibt, denen keine Pflichten entsprechen – und die deshalb auch nicht verwirkt werden können. Sie sind ihrem Wesen nach unbedingt.

Die Sozialhilfe ist ein solches unbedingtes Recht. Auch wenn erwartet wird, dass die Sozialhilfebezieher Anstrengungen unternehmen, aus ihrer Lage herauszufinden und ein eigenständiges Leben zu führen, so meint das Recht auf Sozialhilfe dennoch die Übereinkunft, dass niemand unter ein definiertes Existenzminimum fallen soll. Die Sozialhilfe beruht deshalb auf einer Solidarität, in der Bürgerinnen und Bürger sich wechselseitig das gleiche Recht zusprechen, ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Dies bedeutet jedoch nicht weniger als ein unbedingtes Recht auf ein menschenwürdiges Leben, das nicht erst durch eine Gegenleistung erworben werden müsste. Man kann die zugrunde liegende ethische Grundeinsicht auch so beschreiben: Das Recht des Menschen auf Leben geht jeder Pflicht zu einer Gegenleistung voraus. Das Recht auf einen angemessenen Lebensunterhalt folgt aus der wechselseitigen Anerkennung der menschlichen Würde und eben nicht der Beteiligung an einer Gegenleistung.

In der Hartz-IV-Praxis stehen Rechte und Pflichten zudem in einem extrem ungleichen Verhältnis. Denn während es zu den Pflichten des Bürgers gehört, jedwede Arbeit als zumutbar hinzunehmen, ist der Staat seinerseits nicht verpflichtet, entsprechende Angebote zu garantieren. Ferner sind alle Angebote der aktiven Arbeitsmarktpolitik „Kann-Leistungen“, auf die kein individueller Rechtsanspruch besteht. Dass sich die geforderte Aktivität auch einmal gegen die aktivierende Institution oder deren Maßnahmen richten könnte, ist nicht vorgesehen. Damit wird ein neues Subjekt-Objekt-Herrschaftsverhältnis etabliert, bei dem es auf der einen Seite die aktive, fordernde Instanz gibt und auf der anderen Seite den geforderten und noch passiven Menschen, der nur als Behandelter auftaucht: Er „wird“ gefördert, er „wird“ gefordert. Der Integrationsmanager handelt nach dem Motto: Ich mache Ihnen ein Angebot, das Sie nicht ablehnen können. Wenn die Bürgerinnen und Bürger nicht zur Anpassung bereit sind, werden sie aus der Solidargemeinschaft ausgeschlossen. Sie verwirken dann ihr Recht auf eine soziale Sicherung.


Zwang zur Arbeit

Kernbereich aktivierender Sozialstaatsstrategien ist die Arbeitsmarktpolitik, die den Zwang zur Arbeit um jeden Preis in den Mittelpunkt der Bemühungen stellt. „Aktivierungspolitik ist eher verhaltens- als verhältnisorientiert und betont stark die Eigenverantwortung von Bürgern und Gesellschaft; das bedeutet: Individuelles Verhalten muss sich den Verhältnissen anpassen und im Zweifelsfall entsprechend ausgebildet, qualifiziert, trainiert oder letztlich ‚dressiert‘ werden.“(15) Die Arbeitsverwaltung übt durch die sogenannten Eingliederungsvereinbarungen eine patriarchalische Funktion aus, um das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger zu beeinflussen und zu steuern. Die Vereinbarungen kommen nicht freiwillig zustande, sondern werden durch Druck und strukturelle Gewalt erzwungen. Arbeitssuchende sollen telefonisch erreichbar sein und ihren Aufenthaltsort nicht wechseln. Sie stehen praktisch unter Hausarrest. Auch die Erhebung bei der Beweislastumkehr eheähnlicher Partnerschaften, die einem Urteil es Verfassungsgerichts widerspricht, ist keineswegs angemessen. Die als Hausbesuche deklarierten, sanktionsbewehrten Wohnungskontrollen verletzen ein Grundrecht. Dieses Vorgehen bedeutet, dass die Betroffenen an der Nahtstelle der Integration in Erwerbsarbeit und der Garantie wirtschaftlich sozialer Grundrechte gleichzeitig in ihren Rechten als Erwerbspersonen wie als Staatsbürgerinnen und -bürger verletzt werden.

Der aktivierende Sozialstaat versteht sich als ein Staat, der strafend eingreift. Das SGB II sieht vor, den Rechtsanspruch für Jugendliche gänzlich streichen oder Leistungen der Grundsicherung bei mangelnder Mitwirkung um bis zu 30 Prozent zu kürzen. Ethisch lässt es sich nicht zu rechtfertigen,
dass eine reiche Gesellschaft Menschen das vorenthält, was diese zu einem menschenwürdigen Leben benötigen.

Mit den Arbeitsgelegenheiten, den sogenannten Ein-Euro-Jobs, wird schließlich workfare zum Leitbild aktivierender Sozialpolitik. Die  Arbeitsgelegenheiten für Hilfebedürftige, „die keine Arbeit finden können“ (§ 16 Abs. 2 Satz 3 SGB II), sollen nach den gesetzlichen Vorgaben „in öffentlichem Interesse“ (nicht gemeinnützig!) und „zusätzlich“ sein. Arbeitsgelegenheiten begründen kein Arbeitsverhältnis mit entsprechenden Rechten und Pflichten und werden auch nicht mit einem Arbeitsentgelt entlohnt. Besonders drastisch sind die drastischen Sanktionsvorschriften für Ein-Euro-Jobs, die bis zum völligen Wegfall des gesamten ALG II führen können (§ 31 SGB II).

Artikel 2 des Abkommens der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über Zwangs- und Pflichtarbeit definiert Zwangsarbeit als „jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.“ Solche Arbeiten sind nach internationalem Recht ausdrücklich verboten.
Ein ILO-Expertenausschuss hatte bereits 1985 die Praxis deutscher Sozialämter, Sozialhilfe empfangende Asylbewerber zu gemeinnütziger Arbeit zu verpflichten, als „nicht mit den Bestimmungen zum Verbot der Zwangsarbeit vereinbar“ bezeichnet. In der Hartz-IV-Praxis gibt es viele Fälle, die möglicherweise den Tatbestand einer „unzulässigen Zwangsarbeit“ erfüllen. Wenn es im Grundgesetz heißt, „niemand darf zu einer Arbeit gezwungen werden“ (GG Art. 20) und jeder Bürger das Recht auf freie Berufs-, Arbeitsplatz und Ausbildungswahl genießt, dann sind – wie das Deutsche Menschenrechtsinstitut betont – (16) grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken angebracht.


Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit

Demokratie beruht auf der rechtlichen Gleichheit aller Menschen in ihrer unbedingten und deshalb auch unantastbaren Würde als Subjekte für autonomes Denken und Handeln. Die Rechte der Bürgerinnen und Bürger enthalten drei Elemente: die klassischen bürgerlichen Freiheitsrechte (Freiheit vom Staat), politische Freiheitsrechte zur Gestaltung des Gemeinwesens (Freiheit im Staat) und soziale Rechte (Freiheit durch den Staat). Alle drei Ebenen der Freiheitsrechte sind durch Hartz IV verletzt oder bedroht.

Wie könnte eine alternative Konzeption des „sozialen Rechtsstaates“ aussehen? Wolfgang Abendroth hat hierfür in den Anfängen der Bundesrepublik eine integrierte Rechtsauslegung vorgeschlagen. Der Sozialstaat könne nur entwickelt und als rechtsstaatliche Demokratie mit Substanz versehen werden, wenn die Eigentumsrechte begrenzt werden und der Staat koordinierend für soziale Gerechtigkeit eintritt. Diese soll verstanden werden als annähernde materielle Gleichheit, die durch eine demokratische Kontrolle der Wirtschaft erreicht wird. Das Sozialstaatsprinzip ist für Abendroth „darauf angelegt, den materiellen Rechtsstaatsgedanken der Demokratie, also vor allem den Gleichheitssatz mit dem Teilhabedenken im Selbstbestimmungsgedanken auf die Wirtschafts- und Sozialordnung auszudehnen und dadurch dem Sozialstaatsgedanken realen Inhalt zu verleihen.“(17) Abendroths Absicht war, die Politik der Bundesrepublik über das Sozialstaatsprinzip auf eine solidarische Ökonomie zu verpflichten.

Soziale Sicherheit ist die Grundlage dafür, dass sich eine Gesellschaft entwickeln kann, in der Platz für alle und niemand ausgeschlossen ist. Die von Roosevelt und Churchill 1941 für das Nachkriegseuropa und die Nachkriegs-USA vereinbarte Atlantik-Charta hatte das Ziel der Sozialstaatlichkeit mit der Formel „frei von Furcht und Not“ beschrieben, die 1948 auch in die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aufgenommen wurde. Nicht zufällig war diese Leitidee eines Lebens in Sicherheit „ohne Furcht und Not“ eine Antwort in Gestalt des sozialen Rechts auf die Große Depression. Die utopisch klingende Aussicht auf ein Leben „frei von Furcht und Not“ braucht eine positive Kultur des Sozialstaates und eine innovative Politik mit dem Sozialstaat anstelle der herrschenden Politik gegen den Sozialstaat.

Freiheit und soziale Sicherheit bedingen sich gegenseitig. Soll die Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger gewährleistet werden, müssen die sozialen Grundrechte gewährleistet werden. Um der fortschreitenden sozialen Entrechtung durch Agenda 2010 und Hartz IV entgegenzutreten, sollte deshalb die Forderung eines existenzsichernden Grundeinkommens erhoben werden, das – im Unterschied zur herrschenden Politik – menschenrechtlichen und demokratietheoretischen Ansprüchen auf ein Leben in sozialer Sicherheit tatsächlich genügen kann. (PK)




1 Hessisches LSG, Az. L 6 AS 336/07.
2 Bundestags-Drs. 206/1/04 vom 5.4.2004.
3 Helga Spindler, Umbau des deutschen Sozialstaates durch neue Steuerungselemente und Hartz IV, in: „Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit“, 1/2005, S. 54.
4 Irene Becker, Gutachten laut Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 11.8.2008, unveröff. Manuskript, S. 28 und 39.
5 Vgl. Martin Staiger, Kinderarmut kleingerechnet, in: „Blätter“, 1/2009, S. 13-15.
6 Irene Becker, Gutachten, a.a.O., S. 19.
7 Mathilde Kersting und Kerstin Clausen, Wie teuer ist eine gesunde Ernährung für Kinder und Jugendliche? Die Lebensmittelkosten der Optimierten Mischkost als Referenz für sozialpolitische Regelleistungen, n: „Ernährungsumschau“, 9/2007, S. 508 ff. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch der Deutsche Caritasverband; vgl. dessen Pressemitteilung vom 13.1.2009.
8 Vgl. Rudolf Martens, Expertise. Regelsatz und Preisentwicklung: Vorschlag für eine sachgerechte Anpassung des Regelsatzes an die Preisentwicklung durch einen regelsatzspezifischen Preisindex, Manuskript, Berlin 2007.
9 Vgl. Stefan Selke, Die neue Armenspeisung. Der Boom der Tafelbewegung, in: „Blätter“, 1/2009, S. 95-100; Franz Segbers, Die Tafelarbeit muss politischer werden. Barmherzigkeit allein stoppt die Not in Deutschland nicht, in: „epd-sozial“ vom 12.12.2008, S. 13.
10 Erich Fromm, Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens für alle, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. V, München 1989, S. 310.
11 BVerfGE 35, 348 (355 f.); BVerfGE 82, 60 (80).
12 BVerwGE 36, 258.
13 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Bonn und Berlin 1997, Ziff. 41.
14 Robert Castel, Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg 2005, S. 114.
15 Hans-Jürgen Dahme und Norbert Wohlfahrt, Aktivierungspolitik und der Umbau des Sozialstaates. Gesellschaftliche Modernisierung durch angebotsorientierte Sozialpolitik, in: Heinz-Jürgen Dahme u.a. (Hg.), Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat, Opladen 2003, S. 91.
16 Vgl. „Frankfurter Rundschau“, 19.2.2004.
17 Wolfgang Abendroth, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, in: ders., Arbeiterklasse, Staat und Verfassung, Frankfurt 1975, S. 67.


Quelle

Thursday 5 April 2012

A town without poverty?


Canada's only experiment in guaranteed income finally gets reckoning

by Vivian Belik

 

WHITEHORSE, YK — Try to imagine a town where the government paid each of the residents a living income, regardless of who they were and what they did, and a Soviet hamlet in the early 1980s may come to mind.

But this experiment happened much closer to home. For a four-year period in the '70s, the poorest families in Dauphin, Manitoba, were granted a guaranteed minimum income by the federal and provincial governments. Thirty-five years later all that remains of the experiment are 2,000 boxes of documents that have gathered dust in the Canadian archives building in Winnipeg.
Until now little has been known about what unfolded over those four years in the small rural town, since the government locked away the data that had been collected and prevented it from being analyzed.

But after a five year struggle, Evelyn Forget, a professor of health sciences at the University of Manitoba, secured access to those boxes in 2009. Until the data is computerized, any systematic analysis is impossible. Undeterred, Forget has begun to piece together the story by using the census, health records, and the testimony of the program's participants. What is now emerging reveals that the program could have counted many successes.

Beginning in 1974, Pierre Trudeau's Liberals and Manitoba's first elected New Democratic Party government gave money to every person and family in Dauphin who fell below the poverty line. Under the program—called “Mincome”—about 1,000 families received monthly cheques.
Unlike welfare, which only certain individuals qualified for, the guaranteed minimum income project was open to everyone. It was the first—and to this day, only—time that Canada has ever experimented with such an open-door social assistance program.

In today’s conservative political climate, with constant government and media rhetoric about the inefficiency and wastefulness of the welfare state, the Mincome project sounds like nothing short of a fairy tale.

For four years Dauphin was a place where anyone living below the poverty line could receive monthly cheques to boost their income, no questions asked. Single mothers could afford to put their kids through school and low-income families weren't scrambling to pay the rent each month.
For Amy Richardson, it meant she could afford to buy her children books for school. Richardson joined the program in 1977, just after her husband had gone on disability leave from his job. At the time, she was struggling to raise her three youngest children on $1.50 haircuts she gave in her living room beauty parlour.

The $1,200 per year she received in monthly increments was a welcome supplement, in a time when the poverty line was $2,100 a year.

“The extra money meant that I was also able to give my kids something I wouldn't ordinarily be able to, like taking them to a show or some small luxury like that,” said Richardson, now 84, who spoke to The Dominion by phone from Dauphin.

As part of the experiment, an army of researchers were sent to Dauphin to interview the Mincome families. Residents in nearby rural towns who didn't receive Mincome were also surveyed so their statistics could be compared against those from Dauphin. But after the government cut the program in 1978, they simply warehoused the data and never bothered to analyze it.

“When the government introduced the program they really thought it would be a pilot project and that by the end of the decade they would roll this out and everybody would participate,” said Forget. “They thought it would become a universal program. But of course, the idea eventually just died off.”
During the Mincome program, the federal and provincial governments collectively spent $17 million, though it was initially supposed to have cost only a few million.

Meant to last several more years, the program came to a quick halt in 1978 when an economic recession hit Canada. The recession had caused prices to increase 10 per cent each year, so payouts to families under Mincome had increased accordingly.

Trudeau's Liberals, already on the defensive for an overhaul of Canada's employment insurance system, killed the program and withheld any additional money to analyze the data that had been amassed.

“It's hugely unfortunate and typical of the strange ways in which government works that the data was never analyzed,” says Ron Hikel who coordinated the Mincome program. Hikel now works in the United States to promote universal healthcare reform.

“Government officials opposed [to Mincome] didn't want to spend more money to analyze the data and show what they already thought: that it didn't work,” says Hikel, who remains a strong proponent of guaranteed income programs.

“And the people who were in favour of Mincome were worried because if the analysis was done and the data wasn't favourable then they would have just spent another million dollars on analysis and be even more embarrassed.”

But Forget has culled some useful info from Manitoba labour data. Her research confirms numerous positive consequences of the program.

Initially, the Mincome program was conceived as a labour market experiment. The government wanted to know what would happen if everybody in town received a guaranteed income, and specifically, they wanted to know whether people would still work.
It turns out they did.

Only two segments of Dauphin's labour force worked less as a result of Mincome—new mothers and teenagers. Mothers with newborns stopped working because they wanted to stay at home longer with their babies. And teenagers worked less because they weren't under as much pressure to support their families.

The end result was that they spent more time at school and more teenagers graduated. Those who continued to work were given more opportunities to choose what type of work they did.
“People didn't have to take the first job that came along,” says Hikel. “They could wait for something better that suited them.”

For some, it meant the opportunity to land a job to help them get by.
When Doreen and Hugh Henderson arrived in Dauphin in 1970 with their two young children they were broke. Doreen suggested moving from Vancouver to her hometown because she thought her husband would have an easier time finding work there. But when they arrived, things weren't any better.

“My husband didn't have a very good job and I couldn't find work,” she told The Dominion by phone from Dauphin.
It wasn't until 1978, after receiving Mincome payments for two years, that her husband finally landed janitorial work at the local school, a job he kept for 28 years.
“I don't know how we would have lived without [Mincome],” said Doreen.“I don't know if we would have stayed in Dauphin.”

Although the Mincome experiment was intended to provide a body of information to study labour market trends, Forget discovered that Mincome had a significant effect on people's well being. Two years ago, the professor started studying the health records of Dauphin residents to assess the impacts of the program.

In the period that Mincome was administered, hospital visits dropped 8.5 per cent. Fewer people went to the hospital with work-related injuries and there were fewer emergency room visits from car accidents and domestic abuse. There were also far fewer mental health visits.
It's not hard to see why, says Forget.

“When you walk around a hospital, it's pretty clear that a lot of the time what we're treating are the consequences of poverty,” she says.
Give people financial independence and control over their lives and these accidents and illnesses tend to dissipate, says Forget. In today's terms, an 8.5 per cent decrease in hospital visits across Canada would save the government $4 billion annually, by her calculations. And $4 billion is the amount that the federal government is currently trying to save by slashing social programming and arts funding.
Having analyzed the health data, Forget is now working on a cost-benefit analysis to see what a guaranteed income program might save the federal government if it were implemented today. She’s already worked with a Senate committee investigating a guaranteed income program for all low-income Canadians.

The Canadian government's sudden interest in guaranteed income programs doesn't surprise Forget.
Every 10 or 15 years there seems to be a renewed interest in getting Guaranteed Income (GI) programs off the ground, according to Saskatchewan social work professor James Mulvale. He's researched and written extensively about guaranteed income programs and is also part the Canadian chapter of the Basic Income Earth Network, a worldwide organization that advocates for guaranteed income.

GI programs exist in countries like Brazil, Mexico, France and even the state of Alaska.
Although people may not recognize it, subtle forms of guaranteed income already exist in Canada, says Mulvale, pointing to the child benefit tax, guaranteed income for seniors and the modest GST/HST rebate program for low-income earners.
However, a wider-reaching guaranteed income program would go a long way in decreasing poverty, he says.

Mulvale is in favour of a “demo-grant” model of GI that would give automatic cash transfers to everybody in Canada. This kind of plan would also provide the option of taxing higher-income earners at the end of the year so poorer people receive benefits.

A model such as this has a higher chance of broad support because it goes out to everybody, according to Mulvale. GI can also be administered as a negative income tax to the poor, meaning they'd receive an amount of money back directly in proportion to what they make each year.
“GI by itself wouldn't eliminate poverty but it would go a heck of a long way to decrease the extent of poverty in this country,” says Mulvale.

Conservative senator Hugh Segal has been the biggest supporter of this kind of GI, claiming it would eliminate the social assistance programs now administered by the provinces and territories. Rather than having a separate office to administer child tax benefits, welfare, unemployment insurance and income supplement for seniors, they could all be rolled into one GI scheme.

It would also mean that anybody could apply for support. Many people fall through the cracks under the current welfare system, says Forget. Not everybody can access welfare and those who can are penalized for going to school or for working a job since the money they receive from welfare is then clawed back.

If a guaranteed income program can target more people and is more efficient than other social assistance programs, then why doesn't Canada have such a program in place already? Perhaps the biggest barrier is the prevalence of negative stereotypes about poor people.
“There's very strong feelings out there that we shouldn't give people money for nothing,” Mulvale says.

Guaranteed income proponents aren't holding their breaths that they'll see such a program here anytime soon, but they are hopeful that one day Canada will consider the merits of guaranteed income.

The cost would be "not nearly as prohibitive to do as people imagine it is," says Forget. “A guaranteed minimum income program is a superior way of delivering social assistance. The only thing is that it's of course politically difficult to implement.”


Vivian Belik is a freelance journalist based in the frozen northlands of Whitehorse, Yukon. She was, however, raised in Manitoba where she has spotted many of the provinces small-town statues including the giant beaver in Dauphin.



Source




Wednesday 4 April 2012

Das Recht auf Einkommen


In die Menschenrechtscharta hat sich ein Fehler eingeschlichen. „Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit.“ Das ist so sinnvoll wie die Aussage „Jeder Mensch hat das Recht auf Atemluft.“ Jeder ist umgeben von so viel Arbeit, dass er sie sein Lebtag nicht bewältigen wird. Und je mehr er tut, desto mehr Aufgaben stellen sich ihm.

„Jeder Mensch hat das Recht auf Einkommen.“ muss der Satz lauten. Denn ohne Einkommen kann ich in einer Konsumgesellschaft nicht existieren, und erst recht nicht arbeiten. Durch den Erwerbsarbeitszwang hingegen sind wir genötigt, selbst Menschenunwürdig gestaltete Aufgaben wahrzunehmen, und die Aufgaben, die uns das Leben stellt, zu vernachlässigen.

Unterbezahlung, Mobbing, Druck und Zwang sind nicht mit den Menschenrechten vereinbar. Meine Frau und ich haben uns bewusst für eine Erwerbsarbeitszwangsverweigerung entschieden. Wir sind bemüht, unser berufliches Wirken nach den selben Kriterien wie unser privates Wirken zu gestalten: konzentriert auf sinnvolle, wertgeschätzte, dem Menschen würdige Aktivitäten.
Quelle


Unsoziales Engagement
Viele Menschen sind sozial engagiert. Sie kümmern sich um die armen, hilfsbedürftigen Seelen. Warum denn? Ich glaube nicht, dass einzelne Menschen arm und hilfsbedürftig sind. Ich glaube, sie werden arm und hilfsbedürftig gemacht, von uns allen.

Materiell waren wir noch nie so reich wie heute. Unsere Fähigkeit, Güter zu produzieren, ist fast unbegrenzt. Es ist weit mehr als genug für alle da. Doch unsere Fähigkeit zu sehen, wozu das gut ist, ist nichtmal ansatzweise entwickelt. In Wahrheit leisten wir uns Armut. Wir wollen, dass Menschen, die nicht tun was sie sollen, verschwinden. Wir wollen, dass Menschen, die uns nichts bieten, keine „Unkosten“ verursachen. Und wir wollen, dass Leistungen bewertet werden, mit ernsthaften Folgen.

Aber wenn die Verlierer unserer Wertvorstellungen am Boden liegen, vielleicht gar Hunger leiden, dann werden sie wieder attraktiv. Hilfsbedürftige bringen vielfachen Gewinn: wir können zeigen, wie edel wir sind. Bedürftige überschütten uns mit Dankbarkeit. Und das beste: Bedürftige sind abhängig. Endlich einmal Menschen, die man nach den eigenen Vorstellungen tanzen lassen kann. Endlich wird der Traum des Egos „Ich bin besser als andere“ Wirklichkeit.

Wären wir so edel wie wir glauben, gäbe es keine Armen, an denen wir uns beweisen könnten. Seelisch betrachtet sind wir alle arm und hilfsbedürftig. Wir sind arm an Bewusstsein, und brauchen Hilfe beim Merken. Elend ist nicht die Folge von dem bösen einem Prozent der Menschheit, der die Welt beherrscht. Sie ist die Folge unserer beschränkten, moralisierenden Vorstellungen. Mächtig wird der, der den Wind des Volkes aufnimmt, und seine Segel setzt. Wir machen die Mächtigen, und die Mächtigen geben der Mehrheit, was sie möchte.

Wer etwas gegen Armut tun will, muss sie aus seinem Herzen streichen: es ist genug für alle da, auch für die, die wir nicht mögen. Erkennen wir Leben als das, was es ist; als bedingungslos wertvoll, wird Würde unantastbar.

Quelle