Wednesday 23 April 2014

Hartz IV und die Verfassung

Das BVerfG1 hat sich in zwei Entscheidungen zu der Frage der Sicherstellung des Existenzminimums geäußert. In seiner Entscheidung aus dem Jahre 2010 hat es aus der Menschenwürdegarantie und dem Sozialstaatsprinzip einen verfassungsunmittelbaren Leistungsanspruch auf ein Existenzminimum formuliert, das die physische Existenz und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturell und politischen Leben umfasst. In seiner Entscheidung aus dem Jahre 2010 hat es festgestellt:

Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.“ (Rand-Nr. 137).

Weiterhin qualifiziert das BVerfG dieses Leistungsrecht wie folgt:

Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, …“ (Rand-Nr. 133).

In der Entscheidung aus dem Jahre 2012 – Asylbewerberleistungsgesetz2 – heißt es weiterhin:

…, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss (Rand-Nr. 120)“.

Ich fasse also zusammen, dass nach dieser Rechtsprechung das Existenzminimum „stets“, d.h. also ausnahmslos und in „jedem Fall und zu jeder Zeit“ sichergestellt sein muss. Danach lässt das BVerfG keine Ausnahme zur Unterschreitung des Existenzminimums zu. Es betont zudem, dass dieser Anspruch auf das Existenzminimum „unverfügbar“ sei. Unverfügbar heißt, dass niemand berechtigt ist, diesen Anspruch auf das Existenzminimum zu kürzen oder insgesamt zu nehmen. Für einen solchen Eingriff in das Existenzminimum gibt es demnach auf der Grundlage der beiden Entscheidungen des BVerfG keine Rechtfertigung.

Dies ergibt sich auch aus einer weiteren Überlegung: Denknotwendig ist ein Existenzminimum schon ein Minimum dessen, was ein Mensch benötigt, um in Würde zu leben. Und das Minimum eines Minimums gibt es denklogisch nicht.
Das BVerfG hat zudem in seiner Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz hervorgehoben das es keine Ausnahmen gibt, um das Existenzminimum zu unterschreiten.
Wörtlich heißt es in seiner Entscheidung:

Migrationspolitische Erwägungen, die Leistung an Asylbewerber niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich evtl. hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimums rechtfertigen. Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“

Diese unmissverständlichen Ausführungen des BVerfG zeigen in Verbindung mit den von mir vorher gegebenen Zitaten, dass das Existenzminimum absolut gilt. Es kann – gleich aus welchen Gründen – nicht relativiert werden. Im Gestaltungsbereich des Gesetzgebers liegt es demnach nur, den Bedarf zu bestimmen. Hat er diesen einmal bestimmt, ist dieser durch die Verfassung absolut geschützt. Es liegt dann nicht mehr im Ermessen des Gesetzgebers diesen einmal bestimmten verfassungsrechtlich geschützten Bedarf zu beschneiden. Ebenso wenig wie migrationspolitische Gründe es rechtfertigen können, können auch arbeitsmarktpolitische oder vom Erziehungsgedanken getragene Gründe, wie z.B. bei den U25-Jährigen, eine Kürzung oder Wegfall des Bedarfs rechtfertigen.

Bedarfsunabhängigkeit vs. Sanktionsunabhängigkeit

Gerade das Beziehen von Sozialleistungen, sei es das Arbeitslosengeld II3 oder Sozialleistungen nach der Grundsicherung, setzt eine vorherige Bedarfsprüfung voraus. Erst wenn keine weiteren materiellen Mittel zur Verfügung stehen, erfolgt eine Leistung und zwar das Existenzminimum, welches ein Überleben sichern soll. Es lässt auch keinen Raum für eine Reduzierung des Grundrechts nur auf einen Kernbereich der physischen Existenz, sondern vielmehr leitet das BVerfG dahingehend ab, dass es den unbedingt notwendigen Bedarf eines Menschen auch die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst. Der Leistungsanspruch, der in einem Sozialstaat jedermann zusteht, unmittelbar aus der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG hervorgeht und zwar in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1. Es verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss (Asylleistungsbewerbergesetz, Abs. 120).

Im Unterschied zur sog. Leistungsgesellschaft sind die Menschenwürde und der Sozialstaat auf ewig im Grundgesetz niedergeschrieben. Es ist eine Grenze, die nicht überschritten werden darf. Und jedes politische und wirtschaftliche System muss die Werte achten. Das kann man begrüßen oder ablehnen, ändern kann man es nicht – zumindest solange, wie das Grundgesetz gilt. Weder das Volk, noch eine Regierung. Auch der Einzelne kann auf seine Menschenwürde nicht verzichten.

Im Bereich des deutschen Sozialrechts ist hingegen das Prinzip „Fördern und Fordern“ das höchste Gebot. Im SGB II finden wir es in den §§ 314 und 325 – den Sanktionsregelungen. Demnach muss der Bürger eine Gegenleistung abliefern, um sein Existenzminimum zu sichern. Sein unverfügbares Grundrecht muss er durch regelrechtes Verhalten verdienen. Selbst wenn er Besserung gelobt und entsprechend agiert, läuft die Sanktion noch ein, zwei oder drei Monate weiter. Ich werde also bestraft für etwas, was schon längst aus dem Weg geräumt ist. Ist das für Betroffene nachvollziehbar? Wir befinden uns hier in der zentralen normativen Frage, wie eine wohlhabende Gesellschaft, und das sind wir, mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. In unserer Erwerbsgesellschaft sind die schwächsten Mitglieder in erster Linie erstmal die Erwerbslosen. Und da stelle ich mir durchaus die Frage: Welches Regime, und vor allem das Sanktionsregime, betreibt man im Umgang mit den Leistungsberechtigten? Von einem zivilisationsangemessenen Umgang kann derzeit nicht gesprochen werden. Eher ist es ein Abschreckungsregime, was zu Bundes- und Kommuneneinsparungen führt, jedoch nicht zu dem was es führen sollte: Und zwar: die erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt.  

Das wird systematisch verfehlt.

Grundrechtlich geschützte Wahrnehmungen von Freiheitsrechten wie Berufsfreiheit und Freizügigkeit erfahren plötzlich Bestrafungen.

Nehmen wir nun diese Menschen, die bestraft worden sind, kann davon gesprochen werden, dass die Existenz nur einer bestimmten Teilmenge von Bedürftigen zusteht. Aber genau dieses unterläuft, untergräbt das verfassungsrechtliche garantierte Existenzminimum z.T. um Vielfaches.

Mit einer Sanktion verschwindet das unverfügbare Existenzminimum und dient damit einzig allein der Bestrafung. Die Höhe der Leistungen, also des Arbeitslosengeldes II und der Grundsicherung, sollte sich an den aktuellen Bedarf orientieren und nicht an ein bestimmtes Verhalten. Die tatbestandlichen Voraussetzungen, die zu einer Leistungskürzung führen, sind vollkommen bedarfsunabhängig. Allein aus diesem Grund sind die gesetzlichen Regelungen verfassungswidrig. Unabhängig davon, ob die verbleibende Leistung zumindest noch das physische Überleben garantiert.
So urteilte auch das BVerfG, Abs. 112, dass ein erheblicher Abstand von einem Drittel zu Leistungen nach dem SGB II und XII ein Defizit in der Sicherung der menschenwürdigen Existenz darstellt (Asylleistungsbewerbergesetz, Abs. 112).
Mit einer Pflichtverletzung, in den Augen der Jobcenter, bleibt der Bedarf für das Existenzminimum trotzdem unverändert bestehen. Die Mitarbeiter in den Jobcentern und in der Grundsicherung, maßen sich ein Ermessen über die Menschenrechte an – was jedoch nicht deren Aufgabe ist und sein darf.


Stand_Petition_20122013
Stand_Petition_20122013


Existenzminimum vs. Lebensmittelgutschein

Nach § 31 Abs. 3 KANN der Träger, hier die Jobcenter, bei einer über 30-prozentigen Kürzung, auf Antrag in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen. Die Betonung liegt auf KANN. Nur wenn minderjährige Kinder im Haushalt leben, muss er dieses erbringen.

Im Umkehrschluss heißt es und auch die Praxis zeigt es, dass der Betroffene, hier der Sanktionierte, um ergänzende Sachleistungen, zumeist Lebensmittelgutscheine, betteln muss, sofern keine minderjährigen Kinder im Haushalt leben. Dieses sollte er zeitnah erledigen. Je nach Regelungen in den Jobcentern muss er dieses beim Sachbearbeiter tun, der ihn sanktioniert hat oder in der Leistungssachbearbeitung. Neben der Kürzung, muss der Betroffene somit als „bettelnder jaulender Hund“ auftreten, um zumindest stückweise Nahrung zu erhalten.

Die Praxis zeigt leider auch, dass, wenn sich der zuständige Sachbearbeiter im Urlaub oder Krankheit befindet, nicht immer eine Vertretung zuständig ist. Der Betroffene muss also um eine zwingende Vertretung kämpfen oder warten, bis der zuständige Sachbearbeiter wieder im Hause ist. Überspitzt dargestellt: Bei Urlaub können so auch mal zwei bis drei Wochen vorbeigehen. Zwei bis drei Wochen ohne Lebensmittel – der Mensch ist bis dahin verhungert.

Die weitere Problematik besteht darin, dass nicht jedes Geschäft, aber auch nicht jeder Discounter diese Gutscheine annimmt. Eine individuelle Absprache zwischen den Jobcentern, Kommunen und Geschäften. Gerade in ländlichen Gebieten kann dieses zu einem Spießrutenlauf werden. Und gerade in den ländlichen Gebieten sind die Geschäfte nicht vor der Haustür. Oftmals wird ein Auto oder öffentliche Verkehrsmittel benötigt. Diese können jedoch mit einem Lebensmittelgutscheine nicht bezahlt werden. So bleibt nur trampen, die Hoffnung, dass Freunde ein PKW besitzen oder Schwarz fahren. Wenn Sie meinen, das ist überspitzt, ist es leider die Realität, die mir häufig begegnet.
Unabhängig davon, wie demütigend es ist, mit so einem Gutschein einzukaufen.

Berufsfreiheit vs. Zumutbare Tätigkeit

Dass die Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhaltes eingesetzt werden soll, möchte ich gar nicht in Abrede stellen. Allerdings frage ich: Was ist zumutbar? Ist es zumutbar, jede Tätigkeit anzunehmen, die weder physisch noch psychisch ausgeübt werden kann? Ist es zumutbar, mit einer Fachausbildung oder gar einem Studium in eine Tätigkeit, womöglich noch berufsfremd, reingepresst zu werden, von der man im Voraus weiß, dass man als sog. Aufstocker dem Jobcenter erhalten bleibt? Mit all den selben Regularien, wie jemand ohne Arbeit und somit zum Bittsteller bleibt? Was passiert, wenn jemand lange Zeit berufsfremd arbeitet? Hier passieren zwei Dinge parallel. Zum einen hat der oder diejenige weitaus geringere Chancen im ursprünglichen Bereich eine entsprechende Tätigkeit zu finden, weil man zu lange raus ist. Zum anderen kann das Jobcenter, bei vier Jahren Abstinenz eine sog. „Berufsentfremdung“ aktivieren. D.h. der Leistungsberechtigte wird für seinen Bereich als Ungelernt eingestuft und gilt im schlimmsten Fall als dieser.

Diese Thematik ist in meinen Augen eindeutig ein Fehlsystem in der derzeitigen aktiven und passiven Arbeitsmarktpolitik. Verantwortlich dafür ist die Regierung aktuell, aber auch in der Vergangenheit.

Die derzeitige Zumutbarkeitsregelung öffnet den Markt für den Niedriglohnsektor mit staatlicher Subventionierung in der aktiven Arbeitsmarktpolitik und wenn es sein muss, auch unter dem Druck der Sanktionsandrohung. Was passiert? Erwerbslose, aber auch Erwerbstätige nehmen jede noch so schlecht bezahlte und ausgestattete Tätigkeit an. Die Erwerbslosen unter der Angst einer Geldkürzung, die Erwerbstätigen unter der Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren oder in das System Hartz IV zu rutschen. Die Folgen daraus ist eine Spaltung zwischen den Erwerbslosen und Erwerbstätigen, aber auch die Spaltung zwischen den Erwerbstätigen untereinander. Einzig allein freut sich das Unternehmen.

Bei den U25 sehe ich es folgendermaßen:

Gerade die jungen Menschen haben Visionen, Träume und diese werden durch Zwangsbewerbungen in eine Ausbildung, die vielleicht sogar weder ihren Fähigkeiten noch ihren Talenten entspricht, in etwas hineingezogen, was sie nur mit großem Widerwillen bis hin zur kompletten Verweigerung ausüben. Die Folgen sind Abbruch der Ausbildung, und damit ein Makel als Abbrecher, Gefühle des Scheiterns oder auch mangelnde Leistungsfähigkeit. Es ist klar, wenn sich der junge Mensch mit dem Ausbildungsberuf und dem Unternehmen identifizieren kann, kann auch von einer erfolgreichen Absolvierung ausgegangen werden. Wie schlussendlich der weitere Weg aussieht, kann weder von mir noch von Experten vorausgesagt werden und ist u.a. abhängig von der Wirtschaft und der Arbeitsmarktpolitik.

Parlamentarische Staatssekretärin (BMAS) vs. Hannemann

Gabriele Lösekrug-Möller (Bundesministerium für Arbeit und Soziales – SPD) erwähnte u.a. in ihren Statements, dass die Betroffenen auch zur Mitwirkung verpflichtet seien. Termine müssen wahrgenommen und Unterlagen beigebracht werden. Ebenso müsse auf Weiterbildungsangebote und Vorschläge zur Beschäftigung angenommen werden. „Unser Sozialgesetzbuch erwartet eigene Anstrengungen“, so Lösekrug-Möller.
Das Termine wahrgenommen und Unterlagen beigebracht werden sollten, versteht sich durchaus von selbst. Allerdings sollten äußere und innere Umstände durchaus berücksichtigt werden.

Vielleicht mögen diese Aussage stimmig sein, sofern man davon ausgeht, dass es genügend Arbeitsplätze für alle Erwerbslosen gibt. Vielleicht mag es auch stimmig sein, sofern man dem Leistungsgedanken in unserer Leistungsgesellschaft nachhängt, und der Mensch als Individium, mit all seinen Stärken, Schwächen, Kenntnissen und Fähigkeiten, nichts mehr gilt. Und vielleicht mögen diese Aussagen von dem her rühren, dass die Welt in einem Ministerium eine Parallelwelt darstellen könnte. Die Realität, die tatsächliche Realität wird nicht mehr wahrgenommen. Aber vielleicht ist es auch einfach eine Ignoranz – vor der Wahrheit, die aus Flaschensammlern, hungrigen Erwerbslosen, stigmatisierten und ausgegrenzten Kindern und aus Menschen besteht, die jeden Cent mehrmals umdrehen, deren Angst den Körper lähmt, um auf Rechnungen, Mahnungen oder womöglichen Vollstreckungen und drohendem Wohnungsverlust besteht.

Aussagen einer Vertreterin eines Ministeriums, die eigentlich nur darauf hinausliefen, dass der Mensch, ohne Gegenleistung keinen Wert hat. Der menschliche Wert wird einem Materialismus gegenüber gestellt, der ohne Gegenleistung zu den „Abzockern, Trittbrettfahrer, Parasiten und Schmarotzern6“ gehört (2005 – Wolfgang Clement; SPD). Gründe, die zur Arbeitslosigkeit geführt haben, werden nicht evaluiert. Stattdessen wird der Erwerbslose für schuldig befunden, für diesen Zustand selbst die Verantwortung zu tragen. Die Folge einer neoliberalistischen Ideologie, welche anscheinend dazu berechtigt, die Erwerbslosen mit der Keule der Sanktionen unter Druck zu setzen.
Die Erwerbslosen können die äußeren Umstände (aktive und passive Arbeitsmarktpolitik) kaum bis gar nicht beeinflussen. Die Mitarbeiter in den Jobcentern bewegen sich auf dünnem Eis und agieren, weil es die Politik und die Exekutive Jobcenter so wollen, und wissen jedoch ziemlich genau, dass anderes Handeln arbeitsrechtliche Konsequenzen mit sich bringen könnte. Es ist ein „Kampf“ ums Überleben auf beiden Seiten. Allerdings ist der „Kampf“ auf Seiten der Jobcenter nicht existenziell bedrohlich, sondern äußert sich in hohen Krankenquoten, Dienst nach Vorschrift, Fluktuation oder die Weitergabe des Drucks auf die Erwerbslosen. Und wenn es der „Keule Sanktionen“ bedarf.
Die Jobcenter versagen damit auf jeden Fall in den Fragen der sozialen Fürsorge.

2Asylleistungsbewerbergesetz Juli 2012
3Aus Wikipedia: Arbeitslosengeld II
4SGB II § 31
5SGB II § 32
6Vorwort W. Clement 2005: „ Ein Report vom Arbeitsmarkt im Sommer 2005“
Video zur Anhörung
 
Quelle

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