Saturday 12 February 2011

Diktatur der Mehrheit


Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat, schreibt unser Grundgesetz vor. Alle Staatsgewalt, so heißt es weiter, geht vom Volke aus. Sie wird, so steht es geschrieben, vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

Mir ist in der Vergangenheit verschiedentlich vorgehalten worden, ich würde unserer, der deutschen Demokratie nicht genügend Wertschätzung entgegen bringen. Der Vorhalt ist richtig.

Das Volk übt Gewalt aus, in Wahlen und Abstimmungen. Früher, ich meine sehr viel früher, war das anders. In einer Zeit, als das Volk seine Gewalt durch das gegenseitige Einschlagen von Köpfen ausgeübt hat, kam es darauf an, dass man möglichst viele Gleichgesinnte um sich scharrte, um auf die Gruppe der Andersgesinnten einzuschlagen. Um Macht zu haben und auszuüben, mussten die sich zum Führen des Volkes berufenen also mit möglichst vielen Mitläufern und -schlägern umgeben. Wer die meisten Menschen um sich scharrte, konnte, jedenfalls bis zur Erfindung der Massenvernichtungswaffen, annehmen, siegreich aus den gewalttätigen Auseinandersetzungen hervorzugehen. Die Mehrheit siegte. Die Minderheit wurde, je nach Belieben der Mehrheitsführers entweder ausgelöscht, versklavt oder durfte mehr oder weniger unterdrückt weiterexistieren.

Heute verfährten man anders: Man fasst die Gruppen zusammen und die sich zum Führen berufen Fühlenden lassen darüber abstimmen, wer denn nun führen soll. Das Ergebnis ist das Gleiche: Wer die meisten Menschen um sich scharren kann, gewinnt die Abstimmung; die Mehrheit siegt. Und die Minderheit? Naja, wir sind mittlerweile soweit, dass die Minderheiten nicht mehr ausgelöscht werden, im vergangenen Jahrhundert war das auch in Deutschland noch anders, aber unterworfen, ausgebeutet und unterdrückt werden sie weiterhin. 

Es geht auch in einer Demokratie darum, dem Stärkeren zum Sieg zu verhelfen. Der blutige Faustkampf wird durch den Wahlkampf und die Wirkung der Massenmedien ersetzt und der Stärkere erreicht sein Ziel auf gütlichem Weg. Damit bestimmt, wie in grauer Vorzeit, die Mehrheit was geschieht. Nur ist heute das Verfahren ein anderes, die dahinter stehende Dummheit ist die Gleiche. In einer mittelbaren Demokratie steigert sich mein Unwohlsein noch dadurch, dass nicht nur der Minderheit der Mehrheitswille aufoktroyiert wird, sondern auch die Mehrheit ihre Macht für viele Jahre einigen wenigen Menschen übereignet und sich selbst von der fortlaufenden Willensbildung abschneidet.

So genannte moderne Demokratien unterdrücken Minderheiten nur in seltenen Fällen offensichtlich. Sie gehen perfider vor, indem sie, immer unter Hinweis auf die demokratische Legitimität ihres Handelns, die nur eine scheinbare ist, Minderheiten höher besteuern, sie in behördlichen Verfahren schlechter stellen und dergleichen mehr. Die Mehrheit, weil nicht betroffen, merkt dies kaum. Macht die Minderheit auf ihre Benachteiligung aufmerksam, wird sie mit einem Hinweis auf den Mehrheitswillen abgefertigt. Dabei ist es in einer mittelbaren Demokratie nicht einmal erforderlich, den tatsächlichen Willen der Mehrheit zu ermitteln; es genügt den Führern, darauf zu verweisen, dass sie im Auftrag der Mehrheit handeln würden, um ihr Handeln nicht einer redlichen Diskussion stellen zu müssen.

Das Recht des Stärkeren, das Recht der Mehrheit, ist nicht unbedingt ein gutes Recht. Denn der Stärkere, die Mehrheit, muss ihre Auffassung nicht nachvollziehbar begründen; sie muss nicht einmal auf einem vernünftigen Wege zu ihrer Auffassung gelangen. Stärker sein, Mehrheit sein genügt allein, um Recht zu setzen. Ein aufgeklärter Despot an der Spitze eine Staates ist für einen freisinnig denkenden Menschen möglicherweise – nein nicht nur möglicherweise, ganz bestimmt -  das kleinere Übel als eine korrupte Demokratie.

Demokratie ist immer korrupt. Warum schließen sich Menschen einem Führer an? Warum unterstützen sie ihn mit ihren Fäusten oder ihrer Stimme? Doch nur, weil sie sich einen Vorteil davon versprechen. ‘Ich bin für Dich, dafür darf ich an Deinem Lagerfeuer sitzen, von dem erlegten Wild essen, von der Abwrackprämie einen Anteil bekommen.’ Es genügen sogar Versprechungen, es muss nicht einmal um einen greifbaren Vorteil gehen. ‘Versprich mir, dass meine Rente sicher ist, versprich mir ganz viel Kindergeld.’ Allein solche Versprechen reichen, um Stimmen zu fangen. Die aktuelle Tagespolitik ist ein ausgezeichnetes Beispiel, um zu beobachten wie das funktioniert. Es werden von den Wählern aberwitzige Forderungen (zB im Zusammenhang mit der Rettung der Adam Opel AG) aufgestellt und von den Führern und denen, die es werden wollen, ebenso aberwitzige Versprechungen gemacht. Hat dann ein Führer eine, schon auf unvernünftigen Überlegungen zu Stande gekommene Mehrheit hinter sich gebracht, entmündigt sich diese Mehrheit für viele Jahre selbst und der Führer kann sich auf einen vermeintlichen Mehrheitswillen berufen, um Entscheidungen zu treffen, von denen die wählende Mehrheit nicht einmal ahnte, dass sie zur Entscheidung anstehen. Mehrheiten kommen durch Dummheit und Lügen zustande, nicht aber indem jeder Einzelne in Kenntnis der Sachlage das Für und Wider abwägt und dann zu einer verständigen und nachvollziehbaren Entscheidung über die Frage, wen er unterstützt, kommt.

Einer solchen Herrschaftsform, die auf Korruption und Dummheit beruht, soll ich Wertschätzung entgegen bringen?

Eine falsche Entscheidung wird nicht dadurch richtiger, weil sie eine Mehrheitsentscheidung ist. Unterdrückung und Benachteiligung werden nicht dadurch besser, weil sie nicht im Namen eines Tyrannen, sondern im Namen der Mehrheit begangen werden. Es ist einerlei, ob ein Diktator anerkennt, dass ich Menschenrechte habe, und tags darauf diese Rechte missachtet, oder ob eine Mehrheit diese Menschenrechte anerkennt und tags darauf mit ihren Gesetzen und Urteilen dagegen verstößt. Den Diktator wird die so genannte  freie Welt dafür verdammen, die Mehrheit und ihre Führer werden hingegen auf ihr demokratisch legitimiertes Verfahren verweisen und ihre blutigen Hände in Unschuld waschen.

Akzeptabel wird ein solches System nur dann, wenn es eine Reihe von grundlegenden Rechten und Freiheiten nicht antastet. Bestimmte fundamentale Rechte und Freiheiten dürfen nicht in das Belieben der Mehrheit und ihrer Führer gelegt werden. Dazu gehören mindestens die Rechte auf Informations- und Meinungsfreiheit, insbesondere darf nicht überwacht werden, auf welche Art und Weise ich mir welche Informationen beschaffe, sofern ich nicht die berechtigten Datenschutzinteressen anderer beeinträchtige, und der Zugang zu Informationen darf nicht durch den Staat reguliert oder unterbunden werden. Ebenfalls gehört dazu das Recht, nach meinem Ermessen über meinen Körper zu verfügen. Weiterhin hat sich der Staat bei dem Zugriff auf meinen Geldbeutel auf das Minimum zu beschränken, welches erforderlich ist, um die notwendigen Staatsausgaben zu decken. Zu den notwendigen Staatsausgaben gehören jedenfalls nicht die Ausgaben, die gegenwärtig unter den euphemistischen Bezeichnungen ‘Lastenausgleich’, ‘Umverteilung’ und ‘Solidarpakt’ verkauft werden.

Und ein zentralen Element muss die Gleichberechtigung der Menschen sein.

All das verwirklicht die deutsche Demokratie nicht. Zwar liest man das ein oder andere davon in unserer Verfassung, aber es scheint nicht ernst gemeint zu sein. Jedenfalls halten sich Legislative, Exekutive und Judikative nicht daran. Fehlen diese elementaren Garantien oder werden sie durch den Mehrheitswillen eingeschränkt, zeigt die Demokratie ihr wahres Gesicht: Diktatur der Mehrheit!


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