Sunday, 3 November 2013

Die Angst der Elite vor der Bevölkerung




Dass sich eine herrschende Elite von dem Volk in Burgen, Schlössern und ummauerten Klöstern versteckt, ist uns aus der Geschichte bekannt. Weniger bekannt ist der bedrückende Umstand, dass sich daran nichts geändert hat. Nur die Mauern sind unsichtbar geworden. Die US-Kulturhistorikerin, Schriftstellerin und Journalistin Rebecca Solnit erklärt in einem Interview anlässlich ihres vorletzten Buchs „A Paradise Built in Hell“ (Penguin, ab 12,70 €) ganz analog zum aktuellen Anschlag in Boston, zu dessen Aufklärung Tausende von Polizisten eine Million Bürger unter Hausarrest stellten, den Begriff „Elite Panic“. Sie sagt: Angehörige der Elite nehmen an, dass der Mensch von Grund auf selbstsüchtig, käuflich und irgendwie unmenschlich sei; im Wesentlichen so wie sie selbst. Niemand, so bestätigt uns Solnit, werde unermesslich reich und mächtig, indem er von Grund auf gut sei. Die Elitemitglieder gingen also davon aus, dass nur ausschliesslich ihre eigene Macht ein allgemeines Ausbrechen von zügelloser Gewalt verhindere.

Diese Perspektive ermöglicht es uns, das Verhalten von Angehörigen der Elite besser zu verstehen. Gerade auf Veranstaltungen der Zivilgesellschaft (Bürgerforen, Demonstrationen) erlebe ich immer wieder, wie Bürger entsetzt fragen, wie denn Politiker in diesen oder jenen Angelegenheiten so entscheiden könnten, wie „dumm“ Politiker doch seien. Ein schreckliches Missverständnis. Die Leute in den Brennpunkten der Entscheidung sind keineswegs dumm, sondern verfolgen eben nur ihre eigenen Interessen. Und wer einmal in den Kreis der Elite aufgestiegen ist, verteidigt die Interessen seiner neuen Zugehörigkeitsgruppe, in der Regel gegen die Interessen der Gesamtbevölkerung.

Die ständig wiederholten Forderungen einflussreicher Politiker nach mehr Überwachungskameras, mehr Kontrolle von Mobilfunktelefonie und Internetkommunikation, mehr biometrischer Überwachung, weiterer Aufrüstung der Polizeikräfte bei gleichzeitiger Anonymisierung der Polizisten sind direkte Folgen einer Angst vor einer unkontrollierbaren Bevölkerung, die sich ungezügelt dann ebenso skrupellos und machthungrig verhalten würde, wie man das eigentlich von sich selbst zugeben müsste.

Die Vorteile der Zugehörigkeit sind andererseits so massiv, dass nahezu jeder, der ein solches Angebot bekommt, auch darauf eingeht. Das führt dazu, dass nahezu jeder, der ausreichend Erfolg hat, in die herrschende Gesellschaftsschicht assimiliert wird. Und damit ihre Reihen und ihre Macht verstärkt. Daeaus resultiert zum Beispiel ein Glaubwürdigkeitsproblem junger, zunächst rebellischer Parteien und Bürgerrechtsgruppen – man geht allgemein davon aus, dass ab einem gewissen Grad des Erfolgs die Verlockungen der Macht so gross sind, dass der ursprüngliche systemkritische Ansatz verschwindet, wie das etwas mit der Gewerkschaftsbewegung oder den Bündnisgrünen passiert ist.

Eine Erneuerung der Demokratie – die ja grundsätzlich dafür erfunden wurde, um die Interessen einzelner Mächtiger mit denen der machtlosen Mehrzahl aufzuwiegen – kann nur gelingen, wenn die Zentralfiguren einer solchen Erneuerungsbewegung (ob diese nun Piratenpartei heisst oder anders) die Kommunikation mit der Basis, also der Allgemeinheit nicht aufgeben. Sobald ein politisch Handelnder die Peergroup wechselt – also von der Gemeinschaft der Bürger in die Gemeinschaft der Elite – ist er für die Erneuerung verloren. Die Herausforderung der nächsten Jahre ist also, einen politischen Gestaltungsprozess zu etablieren, der die handelnden Personen weniger als heute einer solchen Gefahr der Korruption aussetzt – natürlich gegen den Widerstand der Elite, einschliesslich ihrer Medien, die durch ein solches Vorgehen direkt in ihrer Existenz bedroht wird. Die Elite ist die Quelle fast aller heutigen gesellschaftlichen Probleme. Um diese Quelle zu entfernen, genügt es nun eben nicht, ihre Mitglieder umzubringen – an diesem Missverständnis sind die grossen historischen Revolutionen kläglich gescheitert. Statt dessen muss ein System etabliert werden, das ein Anhäufen von Macht verhindert. Ob Karl Marx und Friedrich Engels mit ihrer Idee von der „Diktatur des Proletariats“ in diese Richtung zielten, müssen wir hier nicht entscheiden; alle Versuche auf der Grundlage des Kommunistischen Manifests sind jedenfalls maximal gestrandet.

Anstrengungen in dieser Richtung – der einer egalitären Gesellschaft ohne Ausbeutung der Mehrheit – bedrohen aber zwangsläufig die Interessen, wenn nicht gar die Existenz der Elite, führen also zu immer verzweifelteren Verteidigungsanstrengungen. Was wir heute mit Internetsperren, Vorratsdatenspeicherung, Bestandsdatenauskunft, Indect, Acta, Cispa, Sopa, Tafta und anderen Instrumenten einer modernen Diktatur erleben, sind Ausdruck eines Überlebenskampfs. Wir müssen davon ausgehen, dass dieser Kampf mit allen überhaupt verfügbaren Mitteln geführt wird, und dass Menschenleben dabei keine Rolle spielen.

Selbst wenn wir davon ausgehen möchten, dass der Mensch im Grunde doch gut ist, werden sich trotzdem die selbstsüchtigen, soziopathischen Teile der Gesellschaft zusammenschliessen, um eine Macht-Elite zu bilden. Jedenfalls, solange man sie nicht daran hindert. Um das zu erreichen, werden letztlich die Mittel des zivilen Widerstands genügen. In heutigen Worten: Die heutige, parlamentarische Demokratie muss ein Anarchie-Upgrade erhalten.

Rebecca Solnits Buch „A Paradise Built in Hell“ über die spontane Entwicklung von Zivilgesellschaften in Katastrophensituationen ist derzeit nur in englischer Sprache erhältlich. Ich werde mir am Montag ein Exemplar in meinem lokalen Buchladen bestellen.

Quelle

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