Tödliche Langeweile
Jeder hat schon einmal erlebt, dass die Tage sich gleichen und die Stunden nicht vergehen wollen, entweder weil er nicht genug zu tun hat oder kein Interesse an dem verspürt, was er eigentlich erledigen sollte. Langeweile kann qualvoll sein und man sollte sie nicht verwechseln mit der selbst gewählten, erholsamen Untätigkeit - der Muße.
Millionen Schüler, Studenten und Arbeitnehmer in Deutschland fühlen sich unterfordert, nicht gesehen, nicht wertgeschätzt und leiden unter "Boreout", was so viel bedeutet wie krankhafte Langeweile. Bei monotonen Aufgaben wird das Belohnungszentrum des Gehirns wenig aktiviert, was zu einem Dopaminmangel führen kann. Die Betroffenen sind niedergeschlagen, antriebslos und trotz permanenten Nichtstuns im Dauerstress, denn sie müssen ihre Untätigkeit im schlimmsten Fall vertuschen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, ihren Job zu verlieren.
Die Wissenschaftsdoku liefert Einblicke in die Ursachen von Langeweile und ihre negativen Folgen für Gesundheit und Wohlbefinden, aber auch in die Chancen, die aus Langeweile erwachsen. Und: Stefan Witte wagt einen Selbstversuch. Er setzt sich extremer Langeweile aus, lässt sich dabei via Kamera beobachten und gibt über sein Befinden Auskunft.
Ohne Arbeitsauftrag im Büro
Anja Gerloff und Stefan Witte wollen mithilfe eines wissenschaftlichen Experimentes testen, welche konkreten Auswirkungen Langeweile auf einen Menschen hat. Die Motivationsforscherin Michaela Brohm soll sie dabei unterstützen.
Stefan Witte stellt sich als Proband für das Experiment zur Verfügung. Um möglichst aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen, darf er genaue Details der Versuchsanordnung nicht erfahren. In Hamburg findet der Selbstversuch statt. Inmitten des Nachrichtenalltags eines Medienkonzerns wird Stefan fünf Tage in einem Einzelbüro verbringen. Der Versuch wird von einer Psychologin begleitet. Vor Beginn macht Stefan einen Persönlichkeitstest. Es ist wichtig auszuschließen, dass Stefan gerade depressiv oder labil ist. Der Versuch soll schlicht Langeweile erzeugen.
Anja Gerloff, Psychologin:
"Grundsätzlich lässt sich durch das Persönlichkeitsprofil zeigen, dass er eine stabile Persönlichkeit hat. In zwei Bereichen zeigen sich Tendenzen nach oben, das heißt eine stärkere Ausprägung im Bereich sich emotional zu distanzieren und eher durchs Tun und Machen mit der Welt in Kontakt zu treten, also einen hohen Wunsch, wie es bei einer Führungspersönlichkeit typisch wäre, die Dinge selbst in der Hand zu haben."
Die Versuchsanordnung entspricht dem Büroalltag vieler Menschen. Bis auf die installierten Kameras. Neben einem Computer mit Internetanschluss bekommt Stefan ein Telefon, eine Zeitschrift und Schreibutensilien. Stefan hat während der fünf Versuchs-Tage keinen Arbeitsauftrag. Er muss sich selbst beschäftigen. Vom Nebenraum aus wird der Selbstversuch überwacht. Erster Tag des Versuchs: Stefan richtet sich im Büro ein. Die Situation ist ungewohnt.
Highlight des Tages - das Mittagessen
Stefan Witte:
"Ja, Stefan allein im Büro ohne Kollegen, ohne Kommunikation, ohne Geräuschkulisse. Ich muss gestehen, es gefällt mir im Moment ganz gut. Es fühlt sich ein bisschen an wie Urlaub im Büro und ich kann mir im Moment auch eigentlich nicht so richtig vorstellen, dass mich in den nächsten fünf Tagen der Blues überkommen kann."
Er weiß noch nicht, dass er PC und Internet heute zum letzten Mal nutzen darf. Ebenso die Kantine. Das gemeinsame Mittagessen mit Kollegen ist für viele Menschen, die im Berufsalltag unter Langeweile leiden, das Highlight des Tages. Während der Vormittag noch recht produktiv für Stefan war, plätschert der Nachmittag so dahin.
Stefan Witte:
"Was habe ich gemacht. Ich habe mehr oder weniger sinnfrei im Internet gesurft, anfangs habe ich Artikel gelesen, recherchiert, versucht mir neue Anregungen zu holen, bin allerdings ganz schnell in einen Ablenkungsmodus gekommen, in dem ich einfach irgendwelche Shoppinghomepages aufgerufen habe und so ein bisschen davon geträumt habe, was ich mir eigentlich alles kaufen könnte."
Der erste Tag des Selbstversuchs ist abgeschlossen. Ohne Aufgabe hat Stefan die acht Stunden scheinbar mühelos überstanden.
Stefan Witte:
"Ich habe mich eigentlich sehr wohl gefühlt, hab allerdings auch so zwei, dreimal kurze Momente gehabt, wo ich so ein bisschen ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich sozusagen mich mit privaten Dingen beschäftigt habe während einer gefühlten Arbeitszeit."
Die Mischung der Reize macht es
In der Schule ist Langeweile weit verbreitet. Je größer die Schulklasse, desto mehr langweilen sich die Schüler, so die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen. Eine kürzlich veröffentliche Videoanalyse der Goethe-Universität in Frankfurt am Main liefert weitere Fakten.
In einer aufwendigen Studie untersuchte Kristina Kögler vier bayerische Berufsschulklassen in den Fächern Rechnungswesen und Betriebswirtschaft. Über einen Zeitraum von sechsundfünfzig Unterrichtseinheiten wurden die Schüler mit zwei festinstallierten und einer Handkamera im Klassenzimmer gefilmt.
Kristina Kögler, Goethe-Universität, Frankfurt:
"In mehr als 30 Prozent der Unterrichtszeit langweilen sich die Lernenden in der betrachteten Stichprobe überdurchschnittlich."
Was in der Schule beginnt, setzt sich für manche im Arbeitsalltag fort: Jeder zehnte deutsche Arbeitnehmer ist vom sogenannten Boreout betroffen. Die Betroffenen sprechen kaum über ihr Leid. Häufig täuschen sie aus Unsicherheit intensive Beschäftigung vor.
In Hamburg beginnt Stefan seinen zweiten Tag im Selbstversuch. Auch heute hat er keinen Arbeitsauftrag. Privates Surfen im Internet ist ihm ab sofort verboten. In einer normalen Arbeitssituation wäre es ohnehin ein Kündigungsgrund.
Stefan Witte:
"Ich bin ein bisschen müde und habe heute Morgen extreme Schwierigkeiten gehabt aus dem Bett zu kommen, vielleicht hat das damit zu tun, dass ich schon gewusst habe, dass hier keine Aufgaben auf mich warten. Die Motivation ins Büro zu fahren, war jetzt nicht besonders stark, um ehrlich zu sein."
Isolationshaft ist eine Folter
Je weniger äußere Reize ein Mensch erfährt, desto schneller stellt sich Langeweile ein. Stefans Computer wird abgebaut, seine für heute geplante Selbstbeschäftigung ist damit hinfällig. Zur Ablenkung bleibt Stefan jetzt nicht mehr viel. Und so richtig konzentrieren kann er sich auf die Lektüre der Zeitschrift offenbar auch nicht.
Für Stefan bricht die zweite Hälfte des heutigen Versuchstages an. Die Stunden vergehen wie in Zeitlupe. Im Nebenraum wird sein Verhalten permanent überwacht. Ab heute bekommt Stefan sein Mittagessen ins Arbeitszimmer gebracht. Er darf den Raum nur noch für Toilettenbesuche verlassen und soll keinerlei Kontakt zu Kollegen unterhalten. Und Lesen ist jetzt auch nicht mehr erlaubt.
Stefan Witte:
"Ich muss ehrlich sagen, ich war doch ziemlich frustriert, ich hatte zwar damit gerechnet, dass man mir nach und nach meine Ablenkungsmöglichkeiten wegnimmt, aber dass das alles so schnell passiert und dass das vor allem an einem Tag passiert, damit habe ich jetzt doch nicht gerechnet."
Erste Anzeichen von Müdigkeit stellen sich bei Stefan ein.
Gerd-Günter Voß, Soziologe:
"Wir sind soziale Wesen. Wir brauchen unbedingt Kontakt zu anderen Menschen. Wir brauchen die Anregung, die Ansprache. Wir sind aber auch in dem Sinne Wesen, die sehr aktiv sind und sein müssen. Wir brauchen entsprechende Reize, die uns zur Aktivität auffordern. Und in einer absolut reizarmen Situation besteht die Gefahr, dass wir krank werden. Isolationshaft - also Reizentzug - ist eine Folter, wie man weiß. Aber es ist nicht so, dass wir permanent in der Reizüberflutung leben wollen und können, das macht uns auch krank, sondern die Mischung macht es, die Abwechslung."
Der Flow - ideales Verhältnis von Fähigkeiten und Anforderungen
Gerd-Günter Voß ist Soziologe und spezialisiert auf die Unternehmenskultur in Organisationen. Er lehrt an der Technischen Universität in Chemnitz und beobachtet neben den Burnout-Erkrankungen auch die Boreout-Symptome.
Wer Überlastungen am Arbeitsplatz ausgesetzt ist, hat ein doppelt so hohes Risiko eine Herzkreislauferkrankung zu bekommen. Aber auch die Unterforderung macht Betroffenen schwer zu schaffen.
Stefans dritter Tag im Selbstversuch:
Stefan Witte:
"Ich bin eigentlich mit relativ guter Laune jetzt in den Tag gestartet, auf jeden Fall mit besserer Laune als ich gestern hatte am Ende des Versuchstages, da war ich ja doch so ein bisschen deprimiert im Grunde genommen und geschockt durch die Wegnahme der Außenreize. Sprich, man hat mir ja meinen Computer weggenommen, man hat mir meine Lektüre weggenommen. Das hat mich dann doch schon so ein bisschen aus dem Takt gebracht. Und ich habe so das Gefühl, jetzt habe ich eigentlich meinen Takt wieder gefunden und gehe eigentlich so ganz entspannt in den Tag."
Stefan sucht sich heute selbst eine Beschäftigung und entwickelt kreative Kräfte. Der Abbau des Telefons sorgt nur für kurze Irritation.
Stefan Witte:
"Mittlerweile hat man mir hier das Telefon abgebaut und ehrlich gesagt kratzt mich das nun überhaupt nicht, das hätte mich vielleicht mehr getroffen am gestrigen Tage, als ich mich noch so ein bisschen lethargisch gefühlt habe, aber jetzt in diesem Gefühl, selbst produktiv und kreativ zu sein, ohne, dass mir jemand eine Aufgabe stellt, ist mir das eigentlich vollkommen wurscht."
Stefan durchlebt gerade eine Extremsituation - Basejumper an der Eiger-Nordwand ebenso, aber eine völlig andere. Sie sind auf der Suche nach dem ultimativen Abenteuer. Je größer die Herausforderung, desto stärker spürt man sich, sagen sie. Der freie Fall sorgt für einen kurzen, aber heftigen Adrenalin-Kick. Wirklich gesund ist hingegen nur der Zustand zwischen der Eintönigkeit und extrem stressigen Situationen: der Flow.
Symptome wie bei einer Erkältung
Michaela Brohm, Motivationsforscherin:
"Flow ist der ideale Leistungs- und Motivationskick sozusagen. Immer dann, wenn die Fähigkeiten in optimaler Passung sind zu den Herausforderungen, dann erleben wir so einen Zustand der Selbstvergessenheit. Wo man an irgendwas arbeitet, schreibt, Cello spielt oder was auch immer, wo man irgendwas tut ohne ein zeitliches Empfinden zu haben und ohne einfach das Gefühl zu haben, ich muss irgendwas machen, sondern wo man einfach in diesem Zustand selbstvergessen agiert und sich auch erst nach dem Zustand das Glücksgefühl einstellt und man sagt: Boah war das toll, das hat Spaß gemacht, das war super."
Am Nachmittag des 3. Tages stellt sich bei Stefan kein Glücksgefühl ein. Er nimmt sich Auszeiten und schläft. In einer realen Arbeitssituation kaum denkbar.
Stefan Witte:
"Ich bin frustriert, müde, habe eigentlich dann heute Nachmittag auch nicht mehr viel gemacht als ein wenig zu schlafen. Ich habe ein bisschen Bürogymnastik getrieben, wenn man so will um nicht der totalen Lethargie anheim zu fallen. Das war‘s dann aber auch schon und ich befürchte ganz stark, dass ich in irgendeiner Weise versuchen muss diese beiden Tage komplett ohne Antrieb herumzukriegen und mir ist völlig schleierhaft wie ich das schaffen soll, ohne eine totale Frustration zu verspüren."
Am Ende des dritten Versuchstags ist Stefans Stimmung hin- und hergerissen.
Stefan Witte:
"Ich hatte fast so ein bisschen Symptome wie bei so einer Erkältung oder so, einen schweren Kopf, Müdigkeit."
Antriebslosigkeit, Müdigkeit, Erschöpfung, diese Symptome treten regelmäßig bei Menschen auf, denen die Arbeit oder Anerkennung entzogen wird: Arbeitslose, Kranke oder ausgebremste Angestellte. Menschen, die selbstbestimmt arbeiten, kennen dies kaum.
Burnout und Boreout - beides sind Fehlbelastungen
Der vierte Tag des Selbstversuchs beginnt. Nachdenklich ist Stefan auf dem Weg in sein Einzelbüro. Noch zwei weitere Tage ohne Arbeit liegen vor ihm. Wenigstens weiß er, wann die Trostlosigkeit ein Ende haben wird.
Stefan Witte:
"Meine Stimmung ist eher schlecht, ich habe extrem wenig Lust jetzt acht Stunden in diesem Raum zu verbringen und nichts zu tun zu haben. Mir ist es auch heute Morgen sehr, sehr schwer gefallen aus dem Bett zu kommen und diesen Weg hierher anzutreten. Ich habe ganz kurz überlegt, ob ich das Ganze abbrechen soll."
Stefans letzte Kräfte werden geweckt. Er fängt an zu basteln. Englische Wissenschaftler fanden heraus, dass ein vorübergehender Leerlauf oder kurze monotone Tätigkeiten Regionen im Gehirn aktivieren, die bei geistiger Anstrengung ausgeschaltet sind. Danach ist man kreativer.
Seit Beginn seines Selbstversuches vor vier Tagen fehlt auch Stefan Anerkennung und Wertschätzung im Beruf. Da er keine Aufgabe hat, kann er auch kein Lob ernten. Bei den meisten ist Resignation die Folge. Stefan hingegen weiß, der Selbstversuch neigt sich seinem Ende zu. Am frühen Nachmittag wird ihm auch noch seine letzte Ablenkungsmöglichkeit genommen.
Stefan Witte:
"Ich fühle mich ziemlich alle, ziemlich platt und leer vom Nichtstun, vom Rausstarren, vom lethargisch herumsitzen. Hätte ich nicht gedacht, hätte ich nicht vermutet, dass das so anstrengend sein kann. Ich verspüre leichte Kopfschmerzen und bin mir gar nicht mehr so sicher, ob ich morgen eigentlich wieder ins Büro kommen soll. Ja, ich bin kurz davor diesen Selbstversuch abzubrechen, ganz ehrlich. Ich weiß überhaupt nicht, was ich morgen hier soll."
Der fünfte Tag des Selbstversuchs beginnt: Der Gang ins Büro fällt Stefan offensichtlich schwer. Zweiunddreißig Stunden hat er es jetzt schon in dem Einzelbüro ausgehalten - ohne sinnvolle Beschäftigung. Stefan aktiviert seine letzten Ressourcen - und misst den Raum aus. Mehr bleibt ihm zum Zeitvertrieb nicht.
Alleine mit sich und seinen Gedanken
Michaela Brohm, Motivationsforscherin:
"Boreout und Burnout, beides sind Fehlbelastungen, beides sind Fehlbelastungen die in der einen Richtung zu Überforderung und in der anderen zu Unterforderung führen. Und diese Fehlbelastungen führen eben zu sehr ähnlichen Symptomen und das ist das Interessante. Ob man gestresst ist oder ob man sich sehr stark langweilt, man kann die gleichen Symptome zeigen: Lustlosigkeit, Frustration, Müdigkeit und letztendlich dann in einer starken Steigerung Depression auch."
Ohne Aufgabe und ohne Arbeitsmaterialien ist Stefan jetzt ganz allein mit sich und seinen Gedanken. Dass alle seine Reaktionen auf Video aufgezeichnet werden, hat er nach fünf Tagen fast vergessen. Eine willkommene Abwechslung bietet ihm das mittägliche Essen. Wie Stefan ergeht es tausenden Patienten in Krankenhäusern und Bewohnern von Altenheimen. Die Mahlzeiten sind kurze Unterbrechungen der Monotonie.
Stefan Witte:
"Das Highlight es Tages habe ich jetzt hinter mir und das war das Mittagessen."
Die Minuten am letzten Versuchstag ziehen sich wie klebriger Honig. Stefan schläft. Stefan grübelt.
Stefan Witte:
"Ich habe fast die Hälfte des letzten Tages geschafft und jetzt ist meine Stimmung komplett auf dem Nullpunkt. Ich habe das Gefühl, ich habe keine Reserven mehr, um noch länger dieses Experiment, diesen Selbstversuch weiter durchzuführen. Es reicht mir einfach und ich will hier nur noch raus."
Stefan bricht den Versuch ab. Am Mittag des fünften Tages ist seine Geduld am Ende. Tapfer hat er bis hierher durchgehalten. Für viele, die in ähnlichen Arbeitssituationen wie Stefan verharren müssen, ist aufgeben keine Option.
Quelle
Saturday 25 October 2014
Tödliche Langeweile
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