Freiheit für alle? Ein Interview zum Bedingungslosen Grundeinkommen
21 October 2014
Jeden Monat einen bestimmten Geldbetrag auf dem Konto zu haben, von dem es sich leben lässt, ohne dafür zu arbeiten. Klingt absurd? Für die Befürworter vom Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) ist diese Idee ein Stück Freiheit. Ich habe mit Sascha Liebermann telefonisch darüber gesprochen. Er ist derzeit Professor für Soziologie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft und leitet die Forschungsstelle „Bildung und gesellschaftlicher Wandel“. Seit über zehn Jahren beschäftigt er sich mit der Thematik des Bedingungslosen Grundeinkommens. Nicht nur als Forscher befasst er sich damit; als engagierter Bürger trat er 2003 mit der Initiative „Freiheit statt Vollbeschäftigung“, die er gemeinsam mit Kollegen, gegründet hatte, an die Öffentlichkeit.
Vorab einige Eckdaten: Wann haben Sie angefangen, sich mit der Thematik zu beschäftigen?
Das nähere Interesse ist entstanden durch Forschungen zum Wandel der Erwerbsarbeit und Kulturen von Leistungsethik, mit denen wir in den ersten Jahren meiner Zeit an der Universität Dortmund befasst waren, das war um die Jahrtausendwende, - also rein akademisch. Ich war allerdings schon während meiner Doktorarbeit, die sich gar nicht mit dem Thema Grundeinkommen befasste, darauf gestoßen – durch meinen Doktorvater Ulrich Oevermann wurde ich darauf aufmerksam. Erst die öffentliche Diskussion um die Verschärfung der Sozialpolitik in Hessen unter Ministerpräsident Roland Koch, Stichwort „Präventionshelfer“ 1998, und dann die Agenda 2010 Anfang des neuen Jahrtausends gaben den Anstoß, mich zu fragen, ob wir unsere Überlegungen nicht auch in die Öffentlichkeit tragen sollten – als praktischen Vorschlag.
Wie kam es dann zur Initiative „Freiheit statt Vollbeschäftigung“?
Das folgte letztlich aus dem Bestreben, sich angesichts des unsäglichen Tons und aberwitziger Vorschläge wie den damals diskutierten „Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, vulgo „Hartz-Gesetze“, einzumischen und zumindest eine Alternative aufzuzeigen. Nach einem gewissen Hin und Her, wie das geschehen könnte, legten wir eine Website an. Zuvor allerdings stand noch im Raum, wie wir denn ganz konkret in den öffentlichen Raum treten könnten, eine Website zur damaligen Zeit, war etwas wenig.
Wir entwarfen neun Thesen zur damals in unseren Augen drängenden Lage und schlugen das bedingungslose Grundeinkommen als Ausweg vor. Die ließen wir, , auf Plakate drucken, unter den Thesen standen unsere Namen samt Kontaktadresse, also E-Mail und Website. Das war in der Vorweihnachtszeit 2003. Ich lebte damals noch in Frankfurt am Main, wir entschieden uns – so erinnere ich das zumindest – für diese Stadt, weil sie uns offen und international erschien. Dort mieteten wir diese Klebeflächen in den U-Bahnhöfen für zehn Tage.
Nachdem die Plakate etwa eine Woche hingen, bekamen wir die ersten Mails. Von „Das ist Kommunismus!“ bis hin zu „Das ist neoliberal!“ war alles dabei. Die Plakate hingen länger als angemietet, ganze vier Wochen, das hatte wohl mit einem Auftragsmangel zu tun. Wenn die Mietzeit für die Plakatflächen abgelaufen ist und keine anderen Plakate drübergeklebt werden können, bleiben die alten einfach hängen.Nach etwa vier Wochen gab es die ersten Medienkontakte zu einer Tageszeitung und einem Fernsehjournalisten.
Hatten Sie keine Angst, in eine politische Ecke gedrängt zu werden?
Angst nicht, mit solchen Anfragen sind wir entsprechend umgegangen.
Das heißt?
Wir waren bereit, mit jedem zu diskutieren und zu sprechen, wollten aber unabhängig bleiben, damit wir gerade nicht in eine Ecke gestellt werden können. Das machten wir dann auch bei entsprechenden Anfragen oder bei Vorträgen deutlich, denn wir wurden immer wieder danach gefragt.
Die Initiative nennt sich „Freiheit statt Vollbeschäftigung“ – sind wir denn mit Vollbeschäftigung nicht frei oder wie ist der Zusammenhang?
Der Slogan ist eine Reaktion auf die Diskussion damals. Alles und jedes, so hatten wir den Eindruck, wurde mit Vollbeschäftigung begründet und dem Schaffen oder Erhalten von Arbeitsplätzen. Das war ja schon seit den achtziger Jahren der Fall, hatte sich zur Jahrtausendwende jedoch schon als ewiges Versprechen erwiesen, das nicht erreicht wurde. Vollbeschäftigung ist aber gar kein genuin politisches Ziel, weil für Vollbeschäftigung nicht die Bürger im Zentrum stehen, es geht nur um Erwerbstätige. Sie ist ja auch bloß eine Modellvorstellung aus der Volkswirtschaftslehre und besagt etwas über das Verhältnis von Angebot und Nachfrage am sogenannten Arbeitsmarkt.
Für eine Demokratie jedoch ist nicht der Erwerbstätige das Fundament, es ist der Bürger und daran, was politische Entscheidungen für ihn und seine Stellung bedeuten, müssen sie sich messen lassen. Sie können sich das ganz leicht deutlich machen: Mitarbeiter in Arbeitsverhältnissen, also Erwerbstätige, sind immer und notwendig austauschbar, sie dienen einer Funktion. Bürger hingegen sind gerade nicht austauschbar, die Bürgerrechte werden bedingungslos verliehen. Darüber hinaus geht es bei Vollbeschäftigung immer nur um Erwerbsarbeit, nicht aber um andere wesentliche Leistungen, von denen ein Gemeinwesen lebt: bürgerschaftliches Engagement und Familie. Diese Leistungen werden degradiert in unserer Überbewertung von Erwerbstätigkeit. Wir wollten das zuspitzen und die Stellung des Bürgers stärken. Da war es für uns konsequent zu sagen, eine solche Stärkung ist erst dann gegeben, wenn eine basale Einkommenssicherung nicht mehr in Relation zu Erwerbstätigkeit erfolgt.
Aber ist Erwerbstätigkeit nicht Teilhabe an der Gesellschaft? Carsten Schneider, mittlerweile stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion, schrieb 2007 in einem Gastkommentar bei Spiegel Online, dass die Vielschichtigkeit von Armut ausgeblendet werde. Nicht Geldknappheit sei das Problem, sondern fehlende Chancen aktiver Teilhabe.
Schneider sprach sogar davon, dass das Grundeinkommen „gefährlich“ sei. Der Artikel ist auch heute noch lesenswert, da er eine klare Sprache spricht: die des Misstrauens. „Teilhabe“ klingt ja erst einmal nicht schlecht, doch er spricht auch davon, dass ein sozialer Staat „ermutigt, aktiviert und befähigt“. Das ist genau, was wir in den letzten zehn Jahren erfahren haben.
Nicht wird zuerst einmal den Bürgern vertraut, dass sie schon selbst wissen, was für sie gut ist und wenn nicht, sich Rat holen können. Nein, sie werden unter Druck gesetzt, sanktioniert, ihnen werden erhebliche Pflichten auferlegt – lesen Sie einmal eine Broschüre der Arbeitsagentur zu Rechten und Pflichten von Leistungsbeziehern. Dafür kann man schöne Worte wählen, wie Schneider, oder klare, die aussprechen, was diese Praxis tatsächlich auszeichnet. Wer meint, Bürger müssten aktiviert werden, dreht die Problemlage um. Es ist doch gerade der Druck der Behörden, die stigmatisierenden Effekte eines Sozialstaats, der die Menschen in die Ecke drängt. Das BGE würde ja gerade ermöglichen, frei von Druck und Sanktionsdrohungen, frei von dem vermeintlichen höchsten Ziel, der Erwerbstätigkeit, zu entscheiden, was jemand mit seinem Leben anfangen will.
Dazu muss er sich immer auch die Frage stellen, was er zum Gemeinwohl beitragen kann, dem können wir in unserer Demokratie uns nicht entziehen. Was aber wir zu tun für richtig erachten, muss uns überlassen bleiben, solange sich die Entscheidungen nicht gegen das Gemeinwesen als solches richten.
Sie glauben also, dass es genug Menschen geben würde im Falle eines BGE, die trotzdem noch zur Arbeit gehen und die Wirtschaft am Laufen halten?
Es muss ja nicht jeder alles machen, sich also in jeder möglichen Form engagieren. Ich würde auch nicht sagen, dass dies eine Glaubensfrage ist. Schauen Sie sich unsere politische Ordnung an, sie ist ein hard fact. Diese Ordnung baut auf den mündigen Bürger, er ist die Geltungsquelle politischer Entscheidungen. Wir verlassen uns de facto schon darauf, dass sich die Bürger einbringen, weil wir gar nicht anders können in einer Demokratie, das macht sie gerade aus. Wem das nicht behagt, so klingen die Ausführungen von Schneider, der müsste sich letztlich vor dieser freiheitlichen Ordnung fürchten.
Einwände gegen das BGE werden ja nicht selten mit Studien begründet. Diese wiederum beruhen in der Regel auf Simulationsmodellen. Es wird also auf der Basis von Annahmen ein Handeln in der Zukunft modelliert – das hat mit wirklichem Handeln natürlich überhaupt nichts zu tun.
Zu diesen Annahmen, die da verwendet werden, gehört, dass der Mensch sein Handeln an Anreizen ausrichtet. Erhält er ein BGE und muss er dafür nicht erwerbstätig sein, wird er sein Engagement reduzieren – so argumentiert auch Schneider. Die entscheidende Frage wäre, und da habe ich ganz andere Befunde aus der fallrekonstruktiven Forschung, was ist nun entscheidend, warum machen Menschen, was sie machen? Da stoßen solche methodisch orientierten Studien auf das, was gemeinhin als intrinsische Motivierung bezeichnet wird. Letztlich ist das eine Haltung zur Welt, die sich im Zuge der Sozialisation herausbildet. Sie ist wie ein innerer Kompass, der eigene Entscheidungen ausrichtet.
Natürlich spielt es dabei eine Rolle, ob ein Handeln auch Anerkennung findet, also in einem Gemeinwesen wertgeschätzt wird, doch es ist davon nicht abhängig. Wie sehr dabei die Viefältigkeit der Lebensentwürfe unterschätzt wird, kann man bei jedem Vortrag zum Grundeinkommen erleben.
Irgendwann kommt die Frage auf die „Toilettenfrau“, wer denn solch dreckige, unangenehme Arbeit noch machen würde, wenn es ein BGE gäbe. Die Frage stellen dann immer Menschen, die das als niedrige Arbeit sehen und darauf hinabschauen. Wichtig ist aber: Für wen sind solche Tätigkeiten unattraktiv? Sprechen Sie doch mal mit dem Müllmann, dem Busfahrer! Auch da gibt es ein Berufsethos, das gut zu machen, was man macht. Wie bei ihnen, so ist es in der Regel auch bei Reinigungskräften. Das sind ja außerordentlich wichtige Dienstleistungen – solange sie nicht automatisiert werden können. Dann nämlich verlieren sie an Bedeutung.
Und fragen Sie die doch mal, was eine Reinigungskraft von meiner Arbeit als Wissenschaftler hält. Immerzu lesen, schreiben, analysieren – oft ganz einsam. Da sagen etliche, das sei doch keine Arbeit am, da, so am Schreibtisch. Da herrschen auf beiden Seiten Vorurteile und diese hängen teils von kollektiven Wertschätzungen ab, teils von den eigenen Ambitionen und Neigungen.
Es ist nirgendwo empirisch bewiesen, dass der Mensch eine Tendenz hat, nichts tun zu wollen. Mit „Nichtstun“ wird ja meist verbunden, dass eine bestimmte normative Erwartung nicht erfüllt wird, das ist in der Diskussion um Missbrauch von Sozialleistungen stets zu erkennen.
Nicht überall herrscht ein Berufsethos. Es gibt durchaus Menschen, die ihre Arbeit nicht mögen. Was würde sich in der Wirtschaft durch das BGE ändern?
Die Auswirkungen hängen davon ab, was der Einzelne daraus macht. Für denjenigen, der seinen Beruf nicht mag, heißt das dann vielleicht, dass er den nicht mehr macht. Interessant ist dann aber, was er stattdessen macht. Es ist allerdings oft nicht der Beruf, es sind die Bedingungen, unter denen er ausgeübt wird, die zermürbend sein können.
Ein BGE würde in dreierlei Hinsicht mindestens Wirkungen entfalten: Erstens geht es um die Person um ihrer selbst Willen, um den Bürger als Bürger. Da stärkt das BGE den Solidarverband Gemeinwesen, weil er die Bürger um ihrer selbst willen anerkennt und Einkommen bereitstellt. Zweitens sorgt es für eine Gleichordnung von Tätigkeiten. Momentan ist Erwerbstätigkeit das Einzige, das zählt. Familie, Ehrenamt, das ist zur Privatsache degradiert. Das zeigt ja gerade der Ausbau der frühen Fremdbetreuung. Ein BGE würde hier also Freiräume schaffen und Wertschätzung dafür zum Ausdruck bringen, dass es darauf ankommt, was der Einzelne für wichtig und richtig erachtet. So könnte jemand mehr Zeit mit der Familie verbringen, sich vielleicht ausschließlich ihr widmen, solange er den Eindruck hat, es ist das richtige, für den Partner, für die Kinder. Jemand könnte sein Ehrenamt zum Hauptamt machen. Drittens, und das ist ebenfalls weitreichend und zu wenig beachtet: Wenn man freier entscheiden kann, wo man wirken, wo man sich einbringen will, dann ist die Chance größer ist, dass etwas Gutes dabei rauskommt. Denn, nur, wo etwas mit einer gewissen Hingabe gemacht wird, kann das gelingen. Wenn sie etwas nicht machen wollen, dann ist es doch fatal, daran festzuhalten.
Sie legen den Überlegungen ein sehr positives Menschenbild zu Grunde. Wie passt das zusammen mit dem momentanen System, das auf Anreizmechanismen basiert, bei dem auch Macht – etwa in der Politik - eine große Rolle spielt?
Ja, ist es denn wirklich so, dass Anreizmechanismen den „Laden“ am Laufen halten? Oder Macht, ist sie denn einseitig möglich? Betrachten wir doch mal, wie gut es eigentlich in Deutschland läuft, ich meine das jetzt nicht inhaltlich, da gibt es genug zu kritisieren in meinen Augen, wir hatten ja schon die Sozialpolitik genannt, ich meine das politisch: Wir haben eine demokratische Ordnung, funktionierende demokratische Verfahren, Gewaltenteilung, das hat sich doch erstaunlich entwickelt, wenn man betrachtet, wie wenig Erfahrung wir damit hatten, bevor es auf Drängen der Alliierten eingeführt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg. Das finde ich zuerst einmal bemerkenswert, es ist aber zugleich ein Fingerzeig, weshalb es Traditionen gibt, die diesen demokratischen Grundfesten geradezu entgegenlaufen. In Deutschland ist doch noch immer der vorauseilende Gehorsam enorm ausgeprägt. Wieso tragen wir, ich sage bewusst „wir“, ein solche Sozialpolitik. Es ist ja nicht so, dass eine Mehrheit gegen Sanktionen bei Arbeitslosengeld II wäre, wie manche unken. Wie stark die Unterstützung dafür ist, wie lebendig der Geist des Anreizens und Bevormundens, das erlebt man bei jedem Grundeinkommensvortrag. Der Beitrag von Herrn Schneider, auf den Sie verwiesen haben, bezeugt das ja ebenfalls. Selbst unter Grundeinkommensbefürwortern gibt es Vorbehalte, manche meinen, es müsse mit einer Bildungspflicht verbunden werden, wie Wolfgang Engler, oder die „Gesellschaft“ müsse sich erst an das BGE „gewöhnen“.
Und zum Thema Macht: Das ist auch immer zweiseitig! Wenn es keinen Rückhalt für politische Entscheidungen gibt, dann hat ein Amt auch keine Macht. Wenn wir als Bürger Entscheidungen nicht tragen würden, wären sie nicht durchzusetzen. Umgekehrt trifft es auch zu, dass wer sich nicht gegen Entscheidungen erhebt und mittels demokratischer Verfahren zu streiten bereit ist, der stimmt zu. Das zeigt sich deutlich an solchen Entscheidungen, von denen man den Eindruck hat, dass die Kritik daran heute überwiegt: Bologna-Reform an den Hochschulen, die Privatisierungswelle öffentlicher Unternehmen oder auch „Hartz4“. Die sind uns nicht übergestülpt worden, da gab es ja einen großen Rückhalt.
Man muss sich als Bürger langfristig einbringen. Es reicht nicht bei einer guten Idee, einmal zu versuchen, Gehör zu bekommen. Eine Idee kann erst verwirklicht werden, wenn es genug Unterstützer gibt. Die Diskussion um das BGE hätte sich nicht etabliert, wenn die Befürworter nach kurzer Zeit aufgehört hätten, die Idee zu verbreiten.
Warum sollte eine Gesellschaft, in der diese Ideen einen großen Rückhalt haben, das BGE unterstützen?
Da haben Sie recht, das scheint auf den ersten Blick in der Tat weit entfernt. Doch, hier haben wir zwei Ebenen, die unterschieden werden müssen: Erstens, wie wird in Deutschland über die Menschen und das Land gesprochen? Nehmen Sie einmal die aktuellen Streiks. Es ist doch sonderbar, dass auf der einen Seite über die Verschlechterung von Einkommen und Arbeitsbedingungen gesprochen wird, auf der anderen dann, wenn für eine Verbesserung gekämpft wird, das aber niemanden ins Gehege kommen soll. Politik ist aber immer Interessenkampf, so auch in diesem Fall, ein Kampf um einen guten Kompromiss, das geht nicht ohne Reibereien. Oder nehmen Sie ein anderes Beispiel: Die ewige Wiederkehr über den Missbrauch von Sozialleistungen, obwohl wir darum wissen, dass der Missbrauch relativ gesehen, nicht das Problem ist. Den Bürgern wird abgesprochen, verantwortungsvolle Entscheidungen für ihr Leben zu treffen und deswegen müsse ja mehr kontrolliert werden (Stichwort: Anreize), aber tatsächlich ist jeder, ganz wie es der Demokratie entspricht, in Fragen seines Lebens auf sich selbst zurückgeworfen. Jeder muss selbst darüber befinden, wie er leben und wie er zum Gemeinwohl beitragen will, wenngleich es durch die Überhöhung von Erwerbstätigkeit hier eine normative Vorspurung gibt. Wir leben von unserer politischen Ordnung her viel freiheitlicher, als es das Gerede darüber erkennen lässt. Diese Diskrepanz gilt es aufzuzeigen, um deutlich zu machen, dass wir teils über Scheinprobleme lösen bzw. über unangemessene Antworten. Nicht mehr Druck brauchen die Bürger – z.B. durch Sanktionen im Sozialgesetzbuch – um Entscheidungen treffen zu können, sondern mehr Freiräume.
Wie kann das geschehen?
In einer Demokratie gibt es dazu nur ein Mittel: öffentliche Diskussion. Dort wäre der Ort, sich darüber zu verständigen, wie wir denn als Gemeinwesen leben wollen, ob an den Vorurteilen über die Hängematte und die Faulen denn überhaupt etwas dran ist oder es sich eben nur um Vorurteile handelt. Wenn es bei Vorträgen über das BGE zu dem Einwand kommt, dass es doch mehr Leute gäbe, die nichts täten, dann frage ich ob der derjenige jemanden kennt, bei dem das der Fall wäre. Meist ist das so, dass derjenigen nicht aus eigener Erfahrung spricht, er hat gehört oder gelesen, dass irgend einer sei, der usw. Wenn ein Beispiel dann aus eigener Erfahrung berichtet wird, ist schnell klar, dass die betreffende Person, die als Beispiel angeführt werden soll, krank ist.
Wie kann das BGE finanziert werden?
Ich bin Soziologe und kein Finanzwissenschaftler. Für die Finanzierungsfrage ist es erst einmal wichtig zu wissen: Was treibt die Leute an? Das BGE steht und fällt damit, wie sich die Menschen einbringen – das gilt übrigens auch heute. Die Daten, mit denen gerechnet wird in Simulationsmodellen, sind Ergebnis von Handeln. Wir müssen uns also Fragen, wie dieses Handeln zustande kommt, was es leitet, das ist eine grundsätzliche Frage, auf die Berechnungen keine Antwort geben. Woran könnten wir nun ganz praktisch anknüpfen? Gehen wir vom heutigen Gefüge an Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums aus, stellt sich die Lage so dar Es gibt auf der einen Seite den Grundfreibetrag in der Einkommensteuer, auf der anderen Seite Arbeitslosengeld II und entsprechende Leistungen. Sie dienen der Existenzsicherung. Will man mit dem BGE anfangen, müsste man diese beiden Formen nur gesetzlich umdefinieren und direkt ausschütten. Zugleich würden die alten Leistungen, die ihnen entsprechen, abgeschafft. Dann wäre die Frage, ob das BGE nicht höher ausfallen sollte, als diese bisherigen Leistungen, das ist eine Frage des politischen Willens. Nicht zu unterschätzen ist, wie sich durch das bedingungslose Grundeinkommen womöglich die Wertschöpfung verändern würde. Denn wenn die Möglichkeiten besser sind, eine jedem Einzelnen gemäße Tätigkeit zu ergreifen, wirkt sich das auf das Ergebnis derselben aus, Es ist also gut denkbar, dass wir effizienter und effektiver produzieren könnten, soweit es um standardisierte Güter und Dienst geht. Doch auf für das Bildungswesen und damit Bildungsprozesse hätte das Folgen.
Wie hoch sollte denn der Betrag des BGE sein?
Der Betrag müsste so hoch sein, dass eine alleinstehende Person gut damit über die Runden kommt. Auch da ist allerdings die nächste Frage, wie viel wäre das denn? Das wird man nur pauschal beantworten können, darauf zielt die Diskussion auch.
Und andere soziale Sicherungen wie Renten- , Kranken-, Pflege-, oder Unfallversicherung?
Das Grundeinkommen ist eine Absicherung nach unten, andere Leistungen muss es weiter geben. Die könnten aber ganz anders gestaltet sein, manche wären womöglich überflüssig, nehmen sie die Rentenversicherung von heute oder die Arbeitslosenversicherung. Wer eine dauerhafte Absicherung von der Wiege bis zur Bahre hätte, die höher läge als die heutige Durchschnittsrente, und es weiterhin bedarfsgeprüfte Leistungen gäbe, wären sie da nicht überflüssig?
Welche Rolle spielt das Thema Freiheit in einer Gesellschaft, in der das bedingungslose Grundeinkommen eingeführt wurde?
Freiheit begreife ich nicht als eine, in der das Individuum wie ein autarkes, sich selbst versorgendes Subjekt, im Zentrum steht. Freiheit ist immer Freiheit in Abhängigkeit. Um frei zu sein braucht das Individuum Andere. Freiheit ist ein Resultat von Fürsorge, denken Sie nur an die Sozialisation. Egal ob elterliche Fürsorge oder das Gemeinwesen, das Freiheit schafft und die Bürger schützt, die Bürger also sich gegenseitig, – ohne sie gäbe es keine Freiheit. Es ist immer Freiheit durch, nicht nur die Freiheit von und die Freiheit zu. Wir sind immer von anderen abhängig und sei es nur von der Toleranz der anderen.
Ein BGE würde genau das herausheben, dass es Freiheit nur durch andere geben kann. Wir wären dann viel freier, was etwa das Thema Familie betrifft. Wir könnten problemlos zu Hause bleiben bei den Kindern, wenn wir das wollen und solange wir es für richtig hielten. Das BGE signalisierte ja, dass genau dies erwünscht sei, während heute alles in Richtung Erwerbstätigkeit drängt.
Die Last der Entscheidungen für das Leben kann einem aber keiner nehmen. Menschen, die momentan einfach nicht fähig sind, arbeiten zu gehen aufgrund ihrer Lebensgeschichte, Traumata haben, die stehen im heutigen Sozialstaat mit dem Rücken zur Wand, weil sie der normativen Verpflichtung, erwerbstätig sein zu sollen, nicht entsprechen. Sie müssen sich Vorwürfe anhören, dass sie anderen auf der Tasche liegen, werden in die Enge gedrängt. Das wäre mit dem Grundeinkommen nicht mehr so, der Druck wäre weg, gerade weil es bedingungslos bereitgestellt würde.
Das erhöhte die Chance, dass diejenigen, die aufgrund ihrer Lebensgeschichte mit dem eigenen Leben hadern, eher bereit wären, Hilfe in Anspruch zu nehmen, auch therapeutische, wo das nötig wäre, als heute, wo sie als Verlierer betrachtet werden. Die Auswirkungen gingen in alle Richtungen und damit ins Zentrum des Gemeinwesens.
Unsere Sozialisation ist übrigens ein sehr stabiles Gerüst. Das bedingungslose Grundeinkommen würde nichts revolutionär umstürzen. Es wäre eher eine Klärung – wir würden die Möglichkeiten, die wir heute schon haben, noch deutlicher sehen. Es ist auch eine Bürde, ein Zumutung. Denn wir können dann die Verantwortung für unsere Entscheidungen nicht mehr auf andere schieben.
Vielen Dank für das Gespräch!
Louisa Mosemann
21 Jahre alt, angehende Journalistin, momentan noch im Masterstudium in Kaiserslautern. Ehemals (freie) Mitarbeiterin für den SWR, Die Rheinpfalz, Zeit Online.
Kaiserslautern
Quelle
Wednesday, 22 October 2014
Sascha Liebermann
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