Hartz-IV-Sanktionen sind verfassungswidrig
Ein Gastbeitrag von Arnd Pollmann
Sozialleistungen gemäß Hartz IV müssen ein "menschenwürdiges Existenzminimum" gewährleisten – das hat das Bundesverfassungsgericht vor wenigen Wochen bekräftigt. Leider hatte das Gericht auch diesmal nicht zu prüfen, was ständig übersehen und politisch totgeschwiegen wird: Nicht der Hartz-IV-Regelsatz ist das verfassungsrechtliche Problem. Es sind die Sanktionen, die das Jobcenter verhängen kann. Diese Sanktionspraxis verletzt das Gebot zum Schutz der Menschenwürde.
Nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) führen bereits kleinere Regelverstöße, etwa ein verpasster Termin im Jobcenter, stufenweise zu einer Absenkung des Regelsatzes (derzeit 391 Euro). Wenn ein Hartz-IV-Empfänger nicht die geforderte Anzahl an Bewerbungen schreibt oder einen Ein-Euro-Job ablehnt, gilt das bereits als schwere Pflichtverletzung. Bei Wiederholung kann dann der komplette Regelsatz gestrichen werden. Unter-25-Jährige trifft es noch härter: Ein einmaliger Regelverstoß genügt, um die Zahlungen einzufrieren. Dann werden nur noch die Kosten für Unterkunft und Krankenkasse übernommen ‑ und selbst die können im Fall einer weiteren Pflichtwidrigkeit für drei Monate auf null gesetzt werden. 10.800 Menschen waren im Jahr 2012 von dieser Auf-null-Setzung betroffen; insgesamt wurden 1.024.620 Sanktionen verhängt.
Abgesehen davon, dass diese Sanktionen fast immer kontraproduktiv sind: Durch sie wird hunderttausendfach ein Versprechen gebrochen, das sich die Sozialgesetzgebung selbst auferlegt hat. "Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll es Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht", heißt es im SGB II. Die Sanktionen konterkarieren diesen Grundsatz: Wenn die in voller Höhe gezahlte Leistung ein Leben in Würde ermöglichen soll, dann senkt jede Reduktion des Regelsatzes das Lebensniveau in Richtung "nackten Überlebens". Und werden die Bezüge auf null gesetzt, so scheint nicht einmal mehr nacktes Überleben möglich. Eine solche Sanktionspraxis verträgt sich nicht mit dem als "absolut" zu verstehenden Anspruch aus Artikel 1 des Grundgesetzes – die Würde des Menschen ist unantastbar.
An dieser Misere ist das Bundesverfassungsgericht nicht ganz unschuldig, weil es von einem "menschenwürdigen Existenzminimum" spricht. Hier werden zwei Dinge vermischt, die man auseinanderhalten muss: das bloße Existenzminimum und die Menschenwürde. Für ein menschenwürdiges Leben ist mehr nötig als das, was man zum Überleben braucht, zum Beispiel eine gerecht entlohnte Tätigkeit statt Zwangsarbeit mit Niedriglohn; Kleidung, mit der man sich auf die Straße traut; ein gewisses Maß an Bildung, das eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben ermöglicht. Ein Mensch kann ohne diese Dinge "leben", nicht aber menschenwürdig. Daher ist die gegenwärtige Sanktionspraxis, die den Rotstift genau in diesem Zwischenbereich ansetzt, verfassungswidrig. Der Staat vergeht sich nicht nur an seinen Bürgerinnen und Bürgern, sondern auch an seinem wichtigsten Verfassungsgrundsatz.
Quelle
Saturday, 18 October 2014
Sanktionen verfassungswidrig
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