Saturday, 9 March 2013

Warum unsere Demokratie am Ende ist

Von Michael Hardt, Antonio Negri





Wir leben in einer Gesellschaft reißender Wölfe, im Geiste kontrolliert von den Medien und unterdrückt durch die Repräsentanten der Reichen. Dieses Bild zeichnen Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem Buch „Demokratie! Wofür wir kämpfen”. Cicero Online präsentiert einen Auszug:

Die Vertretenen

Immer wieder erzählt man uns, wir befänden uns auf dem langen historischen Weg von der Tyrannei zur Demokratie. In einigen Ländern würden die Menschen noch von totalitären oder despotischen Regimes unterdrückt, so heißt es, doch die repräsentative Regierungsform, die sich als demokratisch und kapitalistisch beschreibt, sei überall auf dem Vormarsch. Das allgemeine Wahlrecht werde in aller Welt geschätzt und ausgeübt, auch wenn es hier und da noch an der Umsetzung hapere. Die globale Marktwirtschaft stehe für das Prinzip der repräsentativen Demokratie, um alle Teile der Bevölkerung einzubeziehen, erzählt man uns. Trotzdem lehnen es viele Angehörige der Protestbewegungen des Jahres 2011 ab, sich von irgendjemandem repräsentieren zu lassen, und für die parlamentarische Demokratie haben sie nichts als beißende Kritik übrig. Wie kommen sie dazu, diese wunderbare Gabe der Moderne zu verschmähen?


Wollen sie etwa einen Rückfall in finstere Zeiten der Tyrannei ohne jede demokratische Beteiligung? Natürlich nicht, im Gegenteil. Um ihre Kritik zu verstehen, müssen wir jedoch erkennen, dass der Begriff der »repräsentativen  Demokratie« ein Widerspruch in sich ist und das Prinzip der Volksvertretung eine echte Demokratie nicht ermöglicht, sondern verhindert. Und wir müssen erkennen, dass »die Vertretenen« alle anderen der hier beschriebenen verkümmerten Rollen – die Verschuldeten, die Vernetzten und die Verwahrten – in sich vereinen und die Summe ihrer Unterdrückung verkörpern.

Erstens verhindert die Macht der Finanzindustrie und der Reichen, dass sich Menschen zusammenschließen und Organisationen gründen, mit denen sie einen Wahlkampf führen und vor allem bezahlen könnten. Heute sind nur noch die Superreichen in der Lage, mit eigenen Mitteln in die Politik zu gehen, die anderen müssen korrumpieren und sich korrumpieren lassen. Und wenn die sogenannten Volksvetreter erst einmal gewählt wurden, bereichern sie sich weiter. 

Zweitens stellt sich die Frage, welche Wahrheiten sich überhaupt formulieren und verbreiten lassen, solange man keine Kontrolle über die allmächtigen Medien hat. Lobbyisten und kapitalistisch finanzierte Werbekampagnen sind ein besonders effektives Instrument, um der herrschenden politischen Klasse den Machterhalt zu sichern. Unabhängige soziale Bewegungen und Bündnisse werden dagegen von den Medien wirkungsvoll kontrolliert und unterdrückt. Das heißt, die dominanten Medien verhindern neue Formen der demokratischen Beteiligung. 

Und drittens werden die Ängste der Verwahrten durch die reißerischen Geschichten und die Panikmache der Medien weiter geschürt. Wer die Abendnachrichten einschaltet, muss Angst bekommen, auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen: Berichte von Kindern, die im Supermarkt entführt werden, wechseln sich mit Nachrichten von vereitelten Terroranschlägen und Horrorgeschichten von Serienmördern in der Nachbarschaft ab. Statt soziale Beziehungen zu pflegen, leben wir verschüchtert und vereinsamt. 

Homo homini lupus: Unsere Mitmenschen erscheinen uns als reißende Wölfe. Überall lauert die Sünde, der Fanatismus präpariert seine Sündenböcke, und die Gewalt führt Pogrome gegen Minderheiten und Abweichler durch. Über den  Prozess der Repräsentation kippt die Politik diesen Müll über den Köpfen der Vertretenen aus. In der modernen bürgerlichen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts standen den Bürgern genau wie den Ausgebeuteten und Entfremdeten (also auch der kontrollierten Arbeiterklasse) in den staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen noch gewisse Möglichkeiten des politischen Handelns offen. Die Mitgliedschaft in Gewerkschaften, politischen Parteien oder Verbänden eröffnete in begrenztem Umfang Freiräume der politischen Beteiligung.

Heute blicken viele Menschen wehmütig auf diese Zeiten zurück, doch dieses Gefühl ist oft nicht mehr als falsche Nostalgie. Wie schnell hat sich diese Zivilgesellschaft in Luft aufgelöst! Heute findet politische Beteiligung im Dunkeln statt: Entweder wird sie von Lobbys kontrolliert oder sie ist gleich krimineller Natur. Die Vertretenen leben in einer verblödeten Gesellschaft, manipuliert durch die lärmende Idiotie der Medienspektakel, erstickt von der undurchschaubaren Informationsflut, und ständig im Angesicht der zynisch zur Schau gestellten Macht der Reichen, die sich vor nichts und niemandem verantworten müssen.

Die Vertretenen wissen nur zu gut, dass die Strukturen der Volksvertretung längst in sich zusammengebrochen sind, doch sie sehen keine Alternative und verspüren nichts als Angst. Dieses Gefühl nährt populistische und charismatische  Formen der Politik, die nicht einmal so tun, als würden sie irgendjemanden vertreten.

Ein Grund für den Niedergang der Zivilgesellschaft mit ihrem breiten Geflecht von Institutionen war unter anderem die geschwundene gesellschaftliche Präsenz der Arbeiterklasse mit ihren Organisationen und Gewerkschaften. Eine weitere Ursache ist jedoch die Enttäuschung jeder Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderungen, oder besser gesagt die Selbstunterwerfung unter das Finanzkapital und den Aufstieg des Zinses zum einzigen gesellschaftlichen Kitt. Vor allem für die Mittelschicht ist »gesellschaftliche Mobilität« heute gleichbedeutend mit dem Abstieg in ein dunkles, bodenloses Loch. Die Angst wird zum beherrschenden Lebensgefühl. Das ist der Nährboden für Populisten, die vorgeben, uns zu beschützen, und die dazu die Zugehörigkeit zu Ethnien und anderen Gruppierungen bemühen, die in Wirklichkeit jeden Sinn und Inhalt verloren haben.

Aber selbst wenn die repräsentative Demokratie transparent wäre und perfekt funktionieren würde, handelt es sich definitionsgemäß um eine Einrichtung, die eine Mauer zwischen Bevölkerung und Machthabern, zwischen Regierten und Regierenden errichtet. Als im 18. Jahrhundert die liberalen Verfassungen formuliert wurden und das Prinzip der Volksvertretung in den Mittelpunkt der aufstrebenden politischen Ordnung gestellt wurde, war bereits klar, dass es sich dabei nicht um eine effektive Beteiligung der Bevölkerung handeln würde – nicht einmal der handverlesenen männlichen Bevölkerung, die damals als »das Volk« definiert wurde. Es handelte sich vielmehr um eine »relative Demokratie «, das heißt, das Prinzip der Repräsentation eröffnete den Menschen den Zugang zur Macht, nur um ihn gleich wieder zu versperren.

Jean-Jacques Rousseau formulierte den Gesellschaftsvertrag und damit die Grundlage der modernen Demokratie. Er suchte ein politisches System, das die Demokratie garantierte, während gleichzeitig das Privateigentum Verwerfungen bewirkte und die Freiheit gefährdete. Dieses System müsse einen Staat errichten, das Privateigentum schützen und das Gemeineigentum so definieren, dass es allen und damit niemandem gehört. Nach Ansicht von Rousseau entsteht die Repräsentation durch einen (metaphysischen) Sprung vom „Willen aller” zum „Gemeinwillen” – also nichts anderem als dem Willen einer kleinen Gruppe, die von allen gewählt wird, aber niemandem mehr Rechenschaft schuldig ist.

Nach Ansicht von Carl Schmitt bedeutet Repräsentation die Anwesenheit von etwas Abwesendem – also von niemandem. Schmitts Schlussfolgerung steht im Einklang mit Rousseaus Überlegungen, die wiederum der Verfassung der Vereinigten Staaten und den Verfassungen der Französischen Revolution zugrundeliegen. Das Prinzip der Repräsentation ist durch und durch widersprüchlich. Das Erstaunliche ist nur, dass es trotzdem so lange überlebt hat – so leer wie es ist, konnte es nur funktionieren, weil es von den Reichen und Mächtigen, den Informationsmonopolen und den Panikmachern getragen wurde.

Aber selbst wenn wir heute noch an den modernen Mythos der Repräsentation glauben und die Volksvertretung für ein Instrument der Volksherrschaft halten würden, müssten wir uns eingestehen, dass ihre Möglichkeiten inzwischen  radikal zusammengeschmolzen sind. Da die Volksvertretungen vor allem auf nationaler Ebene geschaffen wurden, werden sie durch den Aufstieg einer globalen Machtstruktur ausgehöhlt. Die neuen globalen Institutionen tun erst gar nicht so, als würden sie den Willen irgendeiner Bevölkerung repräsentieren. Politische Vereinbarungen und Unternehmensverträge werden innerhalb der Strukturen der Global Governance geschlossen und entziehen sich der Kontrolle der Nationalstaaten. Auf dieser globalen Ebene greift die repräsentative Demokratie nicht mehr, die vorgab, das Volk zum Souverän zu machen.

Aber was ist mit den Vertretenen? Inwieweit kann man sie in diesen globalen Zusammenhängen überhaupt noch als Bürger bezeichnen? Sie sind keine aktiven Teilnehmer am politischen Geschehen mehr, als Arme unter Armen kämpfen sie sich durch den Dschungel, völlig auf sich gestellt. Wenn sie nicht ihren Überlebensinstinkt und ihren Hunger nach Demokratie mobilisieren, werden sie zum bloßen Spielball der Macht in einem Regierungssystem, in dem keine Bürger mehr vorkommen. Die Vertretenen sind also genau wie die drei anderen hier beschriebenen Rollen ein Produkt der Mystifizierung. Genau wie den Verschuldeten wird ihnen die Kontrolle über ihre gesellschaftliche Produktivität genommen. Genau wie den Vernetzten werden ihnen Intelligenz, Leidenschaft und die Fähigkeit zur wirklichen Teilnahme abgesprochen. Und genau wie die Verwahrten, die in einer Welt aus Angst und Schrecken leben und keine Möglichkeit zu einem gemeinsamen, gerechten und liebevollen sozialen Austausch sehen, haben die Vertretenen keine Möglichkeit zu wirkungsvollem politischen Handeln.

Viele der Protestbewegungen des Jahres 2011 richteten ihre Kritik gegen die politischen Strukturen und das Prinzip der repräsentativen Demokratie, da sie erkannt haben, dass selbst eine funktionierende Volksvertretung den Zugang zur Demokratie versperrt, nicht eröffnet. Was ist aus dem Projekt der Demokratie geworden?, fragen sie. Wie können wir es wiederbeleben? Was bedeutet es, zum ersten Mal in der Geschichte die Bürger an die Macht zu bringen? Die  Protestbewegungen zeigen uns, dass ein Weg die Auflehnung gegen diese verkümmerten und ohnmächtigen Rollen ist, die wir in diesem Kapitel skizziert haben. Die Demokratie lässt sich nur von einer Multitude verwirklichen, die in der Lage ist, sie zu verstehen und zu leben.

Quelle

Michael Hardt/ Antonio Negri: Demokratie! Wofür wir kämpfen. Campus Verlag, Fankfurt / New York. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer.











Erscheinungstermin: 14.02.2013
kartoniert
127 Seiten

EAN 9783593398259
€ 12,90 inkl. MwSt.



Michael Hardt ist Professor für Literaturwissenschaft an der Duke University Durham, N.C., in den USA.

Antonio Negri lehrte nach seiner Flucht 1983 aus Italien politische Theorie an der Universität Paris VIII, Saint-Denis. 1997 kehrte er nach Italien zurück und wurde erneut inhaftiert bis Herbst 2003. Er lebt heute als freier Autor in Venedig und Paris. 

Mit ihrem Bestseller "Empire. Die neue Weltordnung" (2000, dt. 2002) wurden Michael Hardt und Antonio Negri weltweit bekannt.


Siehe auch: 

Wir erleben das Ende einer politischen Epoche

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