Der Abstand zwischen Arm und Reich ist laut den vorab durchgesickerten Ergebnissen des Armutsberichts
der Bundesregierung während der rot-grünen Regierungszeit weiter
gewachsen. Die Zahl der Haushalte, die mit weniger als 60 Prozent des
Durchschnittsbudgets auskommen müssen, ist demnach von 12,1 Prozent auf
13,5 Prozent gestiegen. Mittlerweile lebt jede siebte Familie unter der
Armutsgrenze. Dafür ist aber der Anteil der reichsten 10 Prozent der
Bevölkerung am Gesamtprivatnetto-Vermögen von 45 auf 47 Prozent, also
auf 5 Billionen Euro angewachsen. Es ist also an der Zeit zu fragen, wie diese Entwicklung von Armut und Reichtum in Deutschland überhaupt zustande kommt.
Eine Kapazität auf diesem Gebiet ist Werner Rügemer. Der Korruptions- und Armutsforscher ist Vorstandsmitglied von Business Crime Control (BCC) und Mitarbeiter bei der "Internationalen Gramsci Association", bei "Transparency International" und bei "attac". Außerdem ist er als Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln tätig und arbeitet als Berater und Publizist.
Das logische Zentrum des gesellschaftlichen Orkans
2003 ist von ihm bei der "Bibliothek dialektischer Grundbegriffe"eine kurze, aber elementare Einführung in das Thema "arm und reich" erschienen, in welcher er den Lebenslagenbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2001 verarbeitet
hat. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Armut und Reichtum keine für
sich stehenden Kategorien sind, sondern "Fernwirkungen des
dialektischen Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital"- gewissermaßen
das logische Zentrum des gesellschaftlichen Orkans, das sich die
neoliberale Ökonomie beharrlich weigert, überhaupt zur Kenntnis zu
nehmen. Aktuelle Veröffentlichungen von Werner Rügemer sind der von ihm
herausgegebene Band "Die Berater. Ihr Wirken in Staat und Gesellschaft" und "Cross Border Leasing. Ein Lehrstück zur globalen Enteignung der Städte" 2002 erhielt er den Journalistenpreis des Bundes der Steuerzahler NRW. Telepolis führte ein Gespräch mit dem Armutsforscher.
► Während über die Medien ständig kolportiert wird, dass
"wir alle" über unsere Verhältnisse gelebt haben und "wir alle" jetzt
den Gürtel enger schnallen müssen, weisen Kritiker der Agenda 2010
darauf hin, dass in Deutschland genug Reichtum vorhanden ist, nur dass
dieser ungenügend verteilt ist. So hieß es in dem Aufruf
zur Großdemonstration am 2. Oktober in Berlin gegen Hartz IV : "756.000
Millionäre verfügen mit 2900 Milliarden Euro über mehr als 70 Prozent
des Geldvermögens, über 50 Prozent der Haushalte dagegen über kaum mehr
als 5 Prozent." Stimmen solche Zahlen für Deutschland? Können Sie uns
darlegen, was sie unter Armut und Reichtum verstehen, wo Armut und
Reichtum beginnt und haben Sie andere konkrete Zahlen, die diese soziale
Situation illustrieren?
Werner Rügemer: Die
offizielle Statistik sagt hinsichtlich des Vermögens heute so gut wie
gar nichts aus. Nehmen wir zunächst das Immobilien- und
Grundstückseigentum, das einen großen Teil des individuellen und
betrieblichen Vermögens ausmacht. Es wird in den offiziellen Statistiken
nach dem "Einheitswert" geschätzt. Der hat mit dem Marktwert nichts zu
tun. Der Einheitswert wurde, solange die Vermögensteuer erhoben wurde,
gesetzlich festgelegt; Ausgangsjahr ist 1964, seitdem wurde der Wert
alle paar Jahre flächendeckend ein bisschen angepasst. Unterschiedliche
Wertentwicklungen etwa in innerstädtischen Lagen blieben ganz
unberücksichtigt. Die Regierungen begünstigten damit die niedrige
Besteuerung vor allem des besonders wertvollen Grund- und
Immobilienvermögens.
"Arme Millionäre"
Ein Mietshaus im Marktwert von einer Million Euro
konnte so mit einem Einheitswert von 50.000 Euro geschätzt und besteuert
werden. Seit 1998 wird die Vermögensteuer gar nicht mehr erhoben, die
"Einheitswerte" bleiben auf dem damaligen Stand eingefroren.
Gleichzeitig dienten und dienen diese steuerlichen Daten, um die
offizielle Statistik über das Vermögen zu erstellen. Grundstücke und
Immobilienvermögen im Ausland werden meistens überhaupt nicht erfasst.
Auch bei Firmenanteilen, Aktien und anderen Wertpapieren legt das
Bundesamt für Statistik nur die Daten der Finanzämter zugrunde. Auch
dabei werden zahlreiche steuerfreundliche Abwertungen vorgenommen. So
spiegelt die offizielle Statistik bestenfalls einen Teil der
steuerlichen Bewertung bzw. Nichtbewertung und Nichterfassung des
Vermögens und die mehr oder weniger auf dem Nullpunkt angekommene
Steuermoral der vermögenden Schichten wider.
756.000 Millionäre in Deutschland? Dazu ist
folgendes zu bemerken: "Millionär" ist heute auch nicht mehr das, was es
einmal war, selbst wenn man nun mit dem Euro rechnet. Es gibt nach
meiner Schätzung eine Million "armer Millionäre", die mit ihrem etwas
größeren Eigenheim oder mit ihrer 200-Quadratmeter-Eigentumswohnung in
einem guten Stadtviertel schon Millionäre sind. Diesen Status kann nach
20, 30 Jahren z.B. schon ein akademisches, beruftätiges Ehepaar
erreichen. Und solche Leute haben normalerweise nicht nur Wohneigentum.
Sie haben vielfach noch ein Ferienhaus im Ausland, ein oder zwei
kleinere Eigentumswohnungen, etwa für die studierenden Kinder oder
einfach als Geldanlage, sie haben Aktien und Staatsanleihen. Dann erben
sie meistens noch etwas. Sie haben also neben ihrem Einkommen aus
Berufsarbeit ein ständig wachsendes, zweites Einkommen aus Vermögen
(Mieten, Zinsen...). Diese vielen kleinen Millionäre sind der
Öffentlichkeit namentlich weithin unbekannt. Sie bildet den anonymen
Reichtumsbauch der deutschen Gesellschaft. Er wird von politischen
Ideologen und Strategen als "neue Mitte"bezeichnet. Er hat seine
öffentliche Vertretung in den etablierten Parteien einschließlich der
Grünen, aber auch in den meisten Medien und im öffentlichen
Kulturbetrieb.
Die "Millionäre"sind aber nicht so einheitlich, wie
es die übliche Vermögensstatistik erscheinen lässt. Die wesentliche
Gruppe innerhalb der "Millionäre"sind diejenigen, die die bestimmenden
Anteilseigner der mehreren hunderttausend Aktiengesellschaften und GmbHs
sind. Die also über Investitionen, Produkte, Arbeitsplätze entscheiden
und damit ihr Vermögen und Einkommen bestreiten. Das sind vom
selbständigen Installateur und mittelständischen Unternehmer bis zum
Großaktionär bei Karstadt und DaimlerChrysler alle, die über Produktiv-
und Zugriffsvermögen verfügen. Und dann gibt es, vereinfacht gesagt,
neben den "Millionären"noch die "Milliardäre". Man findet sie in den
bekannten Listen der "500 reichsten Menschen der Welt"
oder der "500 reichsten Deutschen": die Albrechts, Ottos, Beisheims,
Klattens, Oppenheims... Aber die Angaben sind weder hinsichtlich der
Namen noch der Höhe des Vermögens vollständig.
Nicht nur die üblichen "Armen" sind arm
Dagegen ist die Armut vergleichsweise gut
sichtbar, jedenfalls statistisch. Die Zahl der Empfänger von Sozialhilfe
und Arbeitslosengeld und die Höhe ihrer "Einkommen" sind ziemlich gut
erfasst. Allerdings definiere ich Armut nicht einfach nach der Höhe des
(Nicht-)Einkommens und (Nicht-)Vermögens, sondern nach dem Anteil am
gesellschaftlich vorhandenen Reichtum und nach der Teilhabe an den
vorhandenen Lebensmöglichkeiten oder eben nach der Aussperrung davon:
Bildung, Wissenschaft, Gesundheit, Erholung, Wohnung, Ernährung,
Mitsprache in der Gemeinschaft und in der Politik... Das bedeutet, dass
nicht nur die üblichen "Armen" arm sind, also die Bettler, Arbeitslosen-
und Sozialgeldempfänger, sondern auch die Niedriglöhner und die
"working poor", also diejenigen, die zwar Arbeit haben, aber trotzdem
arm sind.
Genau und wissenschaftlich gesehen, sind aber auch
die abhängig Beschäftigten bei uns arm, die Arbeiter und Angestellten:
Nicht nur deshalb, weil weltweit im Kapitalismus, angefangen bereits in
den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den USA, ihr Anteil am
erarbeiteten Gesamteinkommen fällt bzw. stagniert, sondern weil sie
statusmäßig und gesetzlich weniger wert sind als die Eigentümer der
Banken und Unternehmen und deshalb einen qualitativ geringeren Anteil am
Volkseinkommen erhalten. In jeder Gesellschaft, in der wie in
Deutschland das Recht auf Privateigentum verfassungsmäßig garantiert
ist, das Recht auf Arbeit aber nicht, reproduziert sich deshalb diese
Form der Armut.
Armut und Reichtum entstehen nicht dadurch, dass Leistung belohnt würde
► Können Sie uns darlegen, wie Armut und Reichtum
überhaupt entstehen? Und können Sie erklären, warum über diese Ursachen
nicht öffentlich debattiert wird? Damit zusammenhängend: Gibt es für die
unteren Schichten ein Phänomen, das man grob als "Verlust ihrer
Geschichte" bezeichnen kann: d.h. dass ihnen die Ahnung der objektiv
vorhandenen sozialen Gegensätze abhanden kommt und die sozialen
Gegensätze verinnerlicht werden, so dass - vermittelt über die Medien
mit den Talk-, Reality-Shows als Spitze des Eisbergs - die
Selbstwahrnehmung eher die eines "Losers" ist, der seine soziale
Situation selbst verschuldet hat, als eines Menschen, der seine
soziale Stellung als Produkt einer Klassengesellschaft versteht? Können
sie Aussagen darüber machen, wie Arm und Reich sich wechselseitig sehen
bzw. welches Selbstbild sie haben?
Werner Rügemer:
Armut und Reichtum entstehen nicht etwa dadurch, dass Leistung belohnt
würde, gute Arbeitsleistung also gut und schlechte Arbeitsleistung also
schlecht belohnt würde; so dass also der Unterschied zwischen arm und
reich durch unterschiedlich gute Leistung entstünde. Es wird zwar
ständig von "Leistung muss sich wieder lohnen"geredet, und die Löhne und
Gehälter und deren unterschiedliche Eingruppierungen und Tarife
scheinen leistungsmäßig genau bestimmt. Die meisten Leute denken, vor
allem auch Arbeiter und Gewerkschafter, dass bei Lohn- und
Gehaltsgruppen zwar komplizierte, aber doch objektive Kriterien
zugrundeliegen. Aber das ist einfach Unsinn.
Es ist eine banale und altbekannte Tatsache, dass im
kapitalistischen Berufsleben Frauen in der Regel für dieselbe Leistung
einen niedrigeren Lohn erhalten. Aber auch dieselbe Leistung von Männern
wird in Ostdeutschland schon niedriger entlohnt als in Westdeutschland,
und noch niedriger in Ungarn, und noch niedriger in Malaysia und noch
niedriger in einer chinesischen Freiwirtschaftszone usw. Für den
kapitalistischen Unternehmer, der ja rechtlich und ansehensmäßig einen
höheren Wert hat als sein Angestellter, rangiert dieser Angestellte im
wesentlichen unter "Kosten", erst an zweiter oder dritter Stelle als
Mensch, Familienvater, Staatsbürger usw. Wenn der Unternehmer Kosten
einsparen kann, dann tut er das. Er kann das tun, je weniger ihm
"seine"Beschäftigten Widerstand entgegenbringen können. Wenn die
Beschäftigten keinen Widerstand entgegenbringen, sinkt der Lohn immer
weiter, im Extremfall bis auf Null.
Gewerkschaften nicht mehr ernst genommen
Nur so erklärt sich, dass innerhalb desselben
westdeutschen oder europäischen Unternehmens ganz unterschiedliche Löhne
und Gehälter gezahlt werden: Auf der einen Seite stehen die
angestammten Facharbeiter im Heimatstandort mit ihren hohen Gehältern
und übertariflichen Leistungen, deren Sockel noch aus der Zeit stammt,
als die Gewerkschaften als Verhandlungspartner relativ ernst genommen
wurden. Auf der anderen Seite stehen die Kinder in Indien und die
kasernierten Frauen in Malaysia, die in Subunternehmen für ein
Hunderstel oder Zwanzigstel des deutschen Facharbeiterlohns 12 Stunden
am Tag arbeiten. Dazwischen liegen Löhne und Gehälter in jeder denkbaren
Höhe. Sie richten sich ganz einfach nach den jeweiligen
Kräfteverhältnissen in dem jeweiligen Land, der jeweiligen Region, der
jeweiligen Branche.
Lohn und Gehalt sind also abhängig von der Stärke und
Schwäche der beiden Seiten Arbeit und Kapital. Da müssen die Personal-
und Tarifexperten in den Unternehmen gar nicht viel rechnen: Man drückt
die Löhne und Gehälter auf das jeweils niedrigstmögliche Niveau. Um es
an einem extremen Beispiel zu verdeutlichen: Im Nationalsozialismus
wurden deutsche männliche Arbeiter bezahlt wie vorher, Frauen erhielten
ebenfalls dasselbe wie vorher, aber natürlich weniger als die Männer;
allerdings setzten Unternehmen und faschistischer Staat einen Lohnstopp
durch. Fremdarbeiter aus dem "zivilisierten" Ausland wie Frankreich und
Belgien erhielten weniger als die deutschen Arbeiter, sie erhielten aber
einen Lohn mit Anteilen für Rente und medizinische Betreuung.
Fremdarbeiter aus den als unzivilisiert betrachteten Staaten wie
Russland erhielten ein Taschengeld. Die Sklavenarbeiter aus den KZs
erhielten gar nichts und wurden durch Arbeit vernichtet, an die SS
entrichteten die Unternehmen eine tägliche Verwaltungsgebühr pro
Sklavenarbeiter.
Unter diesen Bedingungen der Verteilung der
erarbeiteten Werte können natürlich diejenigen besonders "erfolgreich"
zugreifen, die besonders privilegiert sind und die ich noch nicht
genannt habe: erstens die Vorstände und Geschäftsführer der
Kapitalgesellschaften (Aktiengesellschaften, GmbHs u.ä.), zweitens, noch
eine wesentliche Stufe darüber, die Eigentümer der Unternehmen, und
hier wieder, an der Spitze, die Mehrheitseigentümer. Um das kurz an
einem Beispiel zu verdeutlichen: Vor Gericht und in der Öffentlichkeit
wurde darüber gestritten, ob die ungefähr 110 Millionen Euro für
Vorstand und Topmanagement von Mannesmann "zuviel" gewesen seien, die
diese etwa 20 Personen bekommen hatten, damit sie der Übernahme durch
den britischen Konzern Vodafone zustimmen. Dabei blieb ganz außer
Betracht, dass der Mannesmann-Mehrheitseigentümer Hutchison Whampoa
aus Hongkong, der diese Vergünstigungen wesentlich mitangestoßen hatte,
durch die Übernahme etwa 8 Milliarden Euro Gewinn machte.
Wenn der Vorsitzende der größten Einzelgewerkschaft
der Welt, Herr Zwickel von der IG Metall, als langjähriges Mitglied im
Aufsichtsrat von Mannesmann den Übernahmevorgang nicht durchschaut, die
in Aussicht genommenen Entlassungen öffentlich nicht thematisiert und
den korruptiven Vergünstigungen nicht widerspricht, so zeigt das: Selbst
eine als links oder radikal bezeichnete Gewerkschaft hat keine Ahnung
von den wirklichen Macht- und Gewinnverhältnissen. Sie will auch keine
Ahnung haben, denn auch nachträglich wurde die Mannesmann-Übernahme in
der IG Metall nicht kritisch und analytisch aufgearbeitet.
Betäubungs- und Fluchtwege ausgeweitet
Wenn dies schon bei dieser Gewerkschaft so ist, so
kann man sich vorstellen, wie es bei einem normal verbildeten
"Arbeitnehmer" und Mediennutzer aussieht. Die abhängig Beschäftigten und
Unbeschäftigten, von den Großmedien freundlich und nachhaltig
überschüttet, von den "Volksparteien"und den Großkirchen unterstützt,
übernehmen die öffentliche Darstellung der Gewinner und Reichen: "Wir
müssen das tun, um wenigstens so viele Arbeitsplätze hier zu halten, wie
unter den harten Bedingungen des internationalen Standortwettbewerbs
möglich ist." Die Verlierer und Getäuschten kriechen in die Seelenfalten
der sich als Opfer darstellenden Gewinner und leiden mit. Vermutlich
leiden nicht alle und hundertprozentig mit. Aber Zweifel, Widersprüche
können nicht hochkommen, nicht wirksam werden, weil ihnen die dazu
notwendigen Foren (Gespräch im Familien- und Freundeskreis, politische
Treffen, Literatur, Medien) weitgehend fehlen.
Gleichzeitig werden die Betäubungs- und Fluchtwege
ausgeweitet, "demokratisiert", modernisiert, professionell hochgerüstet:
Aufwendig gemachte Pornographie wird zum öffentlich legitimierten
Routine- und Massenphänomen, die Sexualität war noch nie so "frei"(und
pervertiert) wie heute, ein vielfältiges und hochqualifiziert gemachtes
Medienangebot (die hochqualifizierte Machart ist kein Widerspruch zum
Verdummungseffekt, im Gegenteil), billige Massenurlaube an warmen
Meeresstränden, Sportarten und -geräte für vielfältige Zwecke und an
immer mehr verschiedenen Orten, Höhen- und Tiefenlagen, mit den
verschiedensten Gefahrengraden usw. usf.
Unterschiedliche "soziale Durchlässigkeit"
► Wie sieht es in Deutschland mit der "sozialen
Durchlässigkeit"aus? Gibt es heute in Deutschland relevante Chancen,
seine soziale Schicht zu wechseln? Und können Sie eine Einschätzung
geben, wie die Entwicklung von Armut und Reichtum sich allgemein
fortsetzen wird?
Werner Rügemer: Die
"soziale Durchlässigkeit" ist sehr unterschiedlich. Die traditionell
unterprivilegierten Schichten werden immer mehr abgehängt. Das zeigt
sich in den trostlosen Hauptschulen, in den immer weiter fallenden
Anteilen der Arbeiterkinder beim Hochschulbesuch, es zeigt sich an der
Ausweitung der auf Unterhaltung und Verdummung zielenden Massenmedien.
Wer aus einem traditionellen industriellen Beruf heraus arbeitslos wird,
kann kaum höhersteigen.
Heftige Bewegung in den Mittelschichten
In den Mittelschichten ist dagegen heftige Bewegung,
sowohl nach oben wie nach unten. Verbunden mit charakterlichem und
moralischem Opportunismus kann ein Akademiker als Betriebswirt, Jurist,
Journalist in Unternehmen, Banken, Parteien, Behörden, Agenturen schnell
aufsteigen und 5 bis 10.000 Euro im Monat verdienen. Die "new economy"
hat gezeigt, wie tausende agiler und blendungsbereiter Youngsters
Unternehmensfassaden hochziehen und dabei Millionen verdienen können.
Freilich stützen dabei auch eine ganze Menge ab. Aber auch seriösere
Akademiker sind heute nicht vor Dauerarbeitslosigkeit geschützt. Und
viele hochqualifizierte Hochschulabsolventen quälen sich jahrelang mit
unbezahlten Praktika durchs Leben.
Diese heftigen Auf- und Abstiege verlangsamen
sich, je höher man in der sozialen und Reichtumshierarchie kommt. Bei
den "armen"und kleinen Millionären kann es zum Teil sehr heftige Auf-
und Abstiege geben. Beispielsweise war es keine Seltenheit, dass sie
beim Platzen der "New-Economy-Blase" hunderttausende und Millionen Euro
von einem auf den anderen Monat verloren haben. Ich kenne selbst ganz
brave Gymnasiallehrer (Deutsch, Geschichte, Latein), die auf einen
Schlag 250.000 Euro verloren haben. Aber da sie meist ein gutes Polster
haben, ein gutes regelmäßiges Einkommen, ein Eigenheim usw., sind solche
Abstiege nicht existenzgefährdend und bleiben meist unsichtbar.
Auf der obersten Ebene (die Albrechts, Beisheims,
Ottos, Klattens...) bleiben die Verhältnisse so gut wie unbewegt. Ob
einer von ihnen im nächsten Jahr eine Milliarde mehr oder weniger hat,
ändert nichts. Die Machtverhältnisse, die meist verdeckten Einflüsse auf
Staat, Parteien, Medien und Unternehmensentscheidungen bleiben. Wo sich
hier wirklich etwas verschiebt, wird öffentlich bisher nicht
wahrgenommen. Vorreiter für prekäre industrielle Arbeitsverhältnisse,
verbunden mit hohen Kapitalrenditen, waren in Deutschland zunächst
US-Unternehmen, z.B. United Parcel Service (UPS) und WalMart. Änderungen
in den Eigentumsverhältnissen auf oberster Ebene entwickeln sich aber
durch meist anonyme bzw. anonymisierte Finanzinvestoren vor allem aus
den USA und England, aus Saudi-Arabien usw., die seit einem Jahrzehnt
relativ lautlos eindringen und überall in Europa profitable Unternehmen
aufkaufen oder sich an ihnen beteiligen. Die Namen dieser
Investorengruppen wie Investcorp, Blackstone, KKR sagen der
Öffentlichkeit nichts.
Globaler "Hartz IV-Kapitalismus"
► Wie müsste das politische Instrumentarium beschaffen
sein, um diese Entwicklung zu kompensieren oder gar umzukehren? Wird in
Deutschland nicht genau das Gegenteil davon gemacht? Man hat den
Eindruck, das jenseits aller Rhetorik Deutschland immer noch ein
gemischtes Wirtschaftssystem besitzt, nur dass sich mit der Ära Schröder
dessen Komponenten gedreht haben: Keynesianismus nach oben, d.h.
großzügige finanzielle Unterstützung für die großen Konzerne und
Neo-Liberalismus nach unten, also das Abkappen der sozialen
Sicherungssysteme für jene, die bei dieser Entwicklung auf der Strecke
bleiben, eine Art Sozialdemokratie für oben anstatt für unten. Aus
welchem Kalkül heraus werden Riesenunternehmen und Wohlhabende direkt
oder indirekt subventioniert, während der klassische Sozialstaat auf der
Strecke bleibt?
Werner Rügemer: Das
Vordringen der US-Unternehmen - gegenwärtig sind das 1.800
US-Konzerntöchter in Deutschland mit 800.000 Beschäftigten - und der
zuletzt genannten globalen Investorengruppen ist meiner Vermutung nach
ein wesentlicher Grund dafür, dass die bisherige "soziale
Marktwirtschaft" nun abgebaut oder zerschlagen werden soll. Das ist in
den anderen EU-Staaten ähnlich. Der sozialdemokratische Bundeskanzler
Gerhard Schröder ist seit langem mit einem der mächtigsten Banker der
Welt, Sanford Weill, Chef der Citigroup,
befreundet. Diese Bank gehört zu den großen Organisatoren eines
globalen "Hartz IV-Kapitalismus": Der starke Staat organisiert die
systematische Bereicherung der einen ebenso mit wie die systematische
Verarmung der anderen. Politisch stützt er sich auf die verschiedenen
Sektoren der "neuen Mitte".
Dieser Staat soll auch dafür sorgen, jenseits der
bisherigen bürgerlichen Demokratie, dass diese Entwicklung machtmäßig
abgesichert wird. Mit "Sandy", wie Schröder seinen Freund nennen darf,
frühstückt er in New York, von ihm holt er sich Rat. Auf ihn hielt er im
November 2003 die Laudatio,
als Weill den "Global Leadership Award"des American Institute for
Contemporary German Studies erhielt. Anschließend warb der deutsche
Bundeskanzler an der Wallstreet bei einer Versammlung der wichtigsten
US-amerikanischen Banker für die "Agenda 2010" und kehrte dann
rechtzeitig zur Abstimmung über "Hartz IV"im Bundestag zurück.
Traurig lähmender Horizont
Da nun aber die Agenda 2010 auf einen Beschluß der
EU zurückgeht und damit die EU nicht nur wie bisher
"wettbewerbsfähig"gemacht, sondern "die wettbewerbsfähigste Region der
Welt"werden soll, kommt die neue, "amerikanische" Methode der Verteilung
des vorhandenen gesellschaftlichen Ertrags in einer Zangenbewegung nach
Europa. Sie geht nicht nur von den US-Unternehmen direkt aus, sondern
die europäischen Eliten in Staat, Parteien, Unternehmen und Medien
ergreifen mehrheitlich gerne und vielfach sogar mit einem Gefühl endlich
errungener Freiheit die Gelegenheit, im Schutze des großen Bruders von
jenseits des Atlantiks und von ihm lernend das zu praktizieren, was man
"schon immer" praktizieren wollte. In Deutschland hatte man die
neoliberale Kapital-Freiheit eigentlich nur während des
Nationalsozialismus richtig ausleben können - damals aber mit dem
schlechten Beigeschmack eines "verbrecherischen Regimes", wie es
jedenfalls "im Ausland" gesehen wurde.
Wie diese Entwicklung zu kompensieren oder gar
umzukehren ist? Sie hat sich unter der Decke der "sozialen
Marktwirtschaft"oder des "rheinischen Kapitalismus" schon seit
Jahrzehnten angebahnt. Die demokratische und soziale Fassade hat
verhindert, dass die Entwicklung öffentlich und in ihrer Tiefe
wahrgenommen wurde. Vor allem die abhängig Beschäftigten - jedenfalls
männliche, qualifizierte Kerngruppen - haben sich nach dem 2. Weltkrieg
mit einigen Zugeständnissen befrieden lassen. Um heute einen
nachhaltigen Widerstand mit der Perspektive jenseits dieses
zerstörerischen und traurig-lärmenden Horizonts entwickeln zu können,
muss unter anderem auch diese lange, verborgene Vorgeschichte der
jetzigen Zerstörung des Sozialstaats rekonstruiert werden. Übergreifende
Interessen der verschiedenen "Armen"-Gruppen müssen herausgearbeitet
werden. Das Proletariat kommt nicht wieder, aber die Proletarietät. Aber
anzunehmen, dass die Proletarisierten die geborenen Vorkämpfer einer
neuen gerechten Ordnung sein können, dieser Täuschung dürfen wir bzw.
diejenigen, die dafür eintreten, nicht noch einmal erliegen.
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