Sunday, 29 March 2015

Pflegenotstand in Deutschland


Timo Lokoschat
23.03.2015
Krankenschwester: So schlimm sind die Zustände in der Pflege

Nachts und anonym ruft die Krankenschwester „Emily“ in der Fernsehsendung von Jürgen Domian an und schüttet ihr Herz aus. Die bittere Abrechnung.

Es ist 1.20 Uhr am frühen Samstagmorgen, als Jürgen Domian das Gespräch mit der jungen Frau beendet, die süchtig nach einer japanischen Fernsehserie ist und nicht mehr ihrer Phantasiewelt entkommt. Was er danach hört, ist diesmal eine Konfrontation mit der Realität.

Eine Krankenschwester ruft live in der Sendung an, die täglich zwischen 1 und 2 Uhr nachts im WDR und im Radio auf EinsLive läuft. „Emily“ nennt sie sich, wahrscheinlich ist es nicht ihr richtiger Name. Die 49-Jährige will nicht erkannt werden, denn was sie zu berichten hat, macht selbst den abgehärteten Domian sprachlos.

Die Anruferin arbeitet in der geriatrischen Abteilung eines Krankenhauses, in der Pflege – „unfreiwillig“. Vorher im OP-Saal tätig, sei sie in diesen Bereich „zwangsversetzt“ worden. Dort würden schlimme Zustände herrschen.





Sieben Minuten pro Patient

„Ich bin nicht mehr in der Lage, meinen Job ordentlich zu machen, weil wir zu wenig Personal sind, zu wenig Zeit haben“, erzählt sie. Konkret seien es sieben Minuten pro Patient. In diesem kurzem Zeitraum müssen die Frau oder der Mann unter anderem komplett gewaschen, umgelagert und eingecremt werden sowie Medikamente verabreicht bekommen. Das wird knapp.

„Eigentlich sollte man ja auch ein paar Worte mit den alten Leuten reden können“, sagt Domian. „Ist nicht drin“, schnauft Emily. „Das schafft man nicht, und das macht mir unheimlich zu schaffen.“

Der Moderator hakt nach: „Aber du kannst die Leute ja nicht ungewaschen im Bett liegen lassen?“ Emily: „Doch, so machen wir’s. Wir beschränken uns auf das Notwendigste, gehen ein Mal mit dem Waschlappen durchs Gesicht und schauen kurz in die Pampers.“

„Das ist eine Katastrophe“

Domian fragt nach Folgeerkrankungen durch diese unsachgemäße Pflege. „Kann passieren“, sagt Emily resigniert. „Kann es auch passieren, dass ihr Menschen, die sich eingekotet haben, liegen lassen müsst?“, will der Moderator wissen. Emily flüstert in den Hörer, man spürt, dass ihr die Antwort unangenehm ist: „Ich spreche ja jetzt ganz offen bei dir: ja. Das ist eine Katastrophe.“

Wie die alten Menschen auf die Missstände reagieren? „Die sind unglaublich lieb.“ Die Angehörigen seien dagegen häufiger auf der Palme. „Hast du Angehörige, hast du Glück, hast du keinen, hast du verloren“, fasst Emily die deprimierende Situation zusammen.

„Glückssache, ob man satt wird“

Beispiel Mittagessen: „Das wird hingestellt. Gibt es keinen Angehörigen, der füttert, ist es Glückssache, ob man satt wird.“ Brauchen zehn Menschen gleichzeitig Hilfe, weil sie mit dem Löffel den Mund nicht erreichen, müsse sie sich entscheiden: „Wer hat es zuerst verdient?“

Wird dabei aufs Bett gekleckert, bleibt das schmutzig. Tagelang. Auch durch Blut. „Abgesehen vom Zeitfaktor ist oft auch nicht genug Wäsche im Schrank. Manchmal habe ich nicht mal genug Einwegwaschlappen!“, klagt Emily.

Mit einer weiteren examinierten Krankenschwester sei sie für 32 bis 35 Patienten zuständig. „Nicht zu schaffen.“ Verstärkung aus der Zeitarbeit ändere daran nichts.

„Wage es nicht, dich an die Gewerkschaften zu wenden“

Wem sie diese Probleme melden kann? „Direkter Ansprechpartner ist die Pflegedienstleitung – aber denen sind die Hände gebunden“, berichtet Emily. Und: „Wage es nicht, dich an die Gewerkschaften zu wenden, das ist dein Todesurteil.“

Missstände leite sie ans „Beschwerdemanagement“ weiter. Beschwerdemanagement: Wie Emily das Wort ausspricht, klingt es nicht so, als würde diese Einrichtung aus ihrer Sicht viel verändern können.

„Das ist mein Aufschrei“

„Wie soll es weitergehen?“, fragt Domian am Ende. „Ich habe das Gefühl, dass wir Pflegekräfte das alles ausbaden sollen, nach dem Motto: ,Schau, wie du mit der Situation fertig wirst, mach das Beste draus’“, antwortet die Krankenschwester. „Ich will aber nicht alleine die Verantwortung dafür tragen müssen, dass ich jemanden nicht gefüttert habe, ihm nicht seine Tabletten geben konnte. Es geht einfach nicht mehr, ich will einfach nicht mehr. Das ist mein Aufschrei. Denn es wird uns alle einmal betreffen.“

Um 1.35 Uhr ist das Gespräch vorbei. „Wenn man das hört, wird einem ja angst und bange, dass man selber in so eine Situation kommt“, sagt Domian und hofft, dass Journalisten die Unterhaltung mitgehört haben.

Quelle


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