Friday, 15 August 2014

Von der Uni direkt zum ALG-II Bezug



Von der Universität ins Jobcenter. Wie man von heute auf morgen Hartz IV-Empfänger wird. Ein persönlicher Erfahrungsbericht
Ein Nutzerbeitrag von René Korth


Fünf Jahre Bulimie-Lernen, nächtliche Lernmarathons und das Schreiben von Hausarbeiten im Wochentakt waren vorbei. Endlich hatte ich ihn in der Tasche: den Universitätsabschluss. Und nun: Bewerben natürlich! Karriere machen, Geld verdienen, Familie gründen. Ich war bereit die Welt zu erobern, aber merkte schnell, dass die Welt von mir nicht erobert werden wollte.

Natürlich wusste ich, dass es als Politikwissenschaftler schwierig wird, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Ich wurde gewarnt: Vor dem Studium von Eltern, Freunden und Studienratgebern, im Studium von Professoren, Dozenten und Kommilitonen. Auch eine Reihe von Arbeitslosenstatistiken und Umfragen unter Hochschulabsolventen zeigten, dass man Zeit einplanen sollte, um einen ordentlichen, gut bezahlten Arbeitsplatz zu finden.

Trotzdem ist man am Anfang noch guter Dinge. Es werden einige Bewerbungen für dies und jenes geschrieben. Man denkt sich, irgendetwas wird sich schon ergeben. Warum auch nicht? Warum sollte ich Zweifel haben? Nichts spricht gegen mich: jung, gut ausgebildet und örtlich flexibel. Und dann kommt das große Warten. Eine Woche. Zwei Wochen. In der dritten Woche fliegen die ersten Absagen ins Haus, in den nächsten Wochen die Restlichen. Ich muss mir eingestehen, dass es doch nicht so einfach wird.

Plötzlich geht es nicht mehr vorwärts. Ich stehe im Jobcenter und gebe meinen ALG 2-Antrag ab. Ich bin jetzt Hartzer. Für meinen zugewiesenen Fallmanager bin ich zum Produkt degradiert, welches optimiert werden muss, um es gewinnbringend auf dem Arbeitsmarkt zu verkaufen. So sitze ich nun gemeinsam mit Langzeitarbeitslosen in einem EDV-Lehrgang und lerne die Bedienung von Word. Das Leben dreht sich fortan um Bewilligungsbescheide und Eingliederungsvereinbarungen. Ich schäme mich versagt zu haben, bevor es eigenlich richtig losgegangen ist.

Ich bewerbe mich weiter, aber je mehr Bewerbungen man schreibt, desto mehr Absagen landen wieder im Briefkasten. Ich fange doch an, an mir zu zweifeln. Ich frage mich, was ich falsch mache. Doch eine Antwort darauf bleibt aus. Stündlich schaue ich gespannt in mein Email-Postfach, in der leisen Hoffnung auf eine Einladung zum Vorstellungsgespräch. Aber nur selten ist eine dabei.

Jedes neue Vorstellungsgespräch weckt wieder neues Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Es wird neue Kraft geschöpft. Meist vergebens. Man merkt, dass das Leben an einem vorbeizieht. Viele Freunde aus Studienzeiten hatten mehr Glück als ich. Sie arbeiten und verdienen Geld. Sie reden unentwegt von Selbstverwirklichung, neuen Erfahrungen und ihren neuen lieben Kollegen. Sie reden über ihr neues Diensthandy und ihr neues iPad. Sie reden über ihre Reisen in alle Welt. Sie reden über alles, was einem selbst verwehrt bleibt. Man freut sich trotzdem für sie, aber es nagt auch an einem.

Anfangs wird  immer noch nachgefragt, wie es bei der Arbeitssuche so läuft. Eltern und Freunde geben gutgemeinte Ratschläge und versuchen einen aufzumuntern. Doch so länger es dauert, desto weniger fragen sie nach. Sie merken mir an, dass ich darüber nicht reden will. Sie verstehen nicht, was bei mir schiefläuft. Wie sollten sie auch, ich versteh es ja selbst auch nicht.

Nach jeder weiteren Absage wird es schwieriger aus dem Bett zu steigen. Der morgendliche Gang zum Briefkasten wird zur Qual. Nur widerwillig schalte ich meinen Computer ein, nur um im Email-Postfach erneut eine Absage zu finden.  Wie Hohn klingt das Absageschreiben, wenn es heißt, dass es nicht an meine Person oder Qualifikation gelegen hat, weshalb ich für diese oder jene Stelle nicht in Frage komme. Aber was ist die Absage sonst, wenn nicht persönlich. Das Traurige ist, dass man niemanden außer sich selbst die Schuld daran geben kann. Da ist keiner, da bin nur ich, ich allein.

Die Tage häufen sich, wenn die Kraft nicht mehr ausreicht, das Bett zu verlassen. Ich merke, dass ich mich verändere, dass ich mich zunehmend von meiner Umwelt abwende, oder sie sich von mir. Die Treffen mit Freunden werden rarer, ich gehe nicht mehr aus, nicht mehr ins Kino oder ins Theater. Ich bleibe lieber für mich allein. 

Als ich vor zehn Jahren das Abitur nachholte, da glaubte ich noch den Versprechungen, die tagein, tagaus von den Funktionsträgern der Bildungsrepublik Deutschland in den Medien kolportiert werden: "Bildung schafft Aufstieg"; "Bildung schafft Zukunft"; "Bildung ist der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit". Doch mit jeder neuen Absage schwindet das Vertrauen in alte Gewissheiten.

Nun werde ich in  die gleiche Schublade gesteckt wie der vermeintlich faule, dickliche und dümmliche Klischee-Hartzer. Ich bin jetzt ein Sozialschmarotzer, der, wenn man Guido Westerwelle glaubt, mit dazu beiträgt, dass wir heute in Deutschland Zustände haben, die an die "spätrömische Dekandenz" erinnern. Habe ich  2009 dem Vorsitzenden der Jungen Union Philipp Mißfelder noch heimlich zugestimmt, als er die Erhöhung des Hartz IV-Regelsatzes als Subvention für die Alkohol- und Zigarettenindustrie geißelte, so schäme ich mich heute meiner Unwissenheit von damals. Hartz IV war damals weit weg. Heute weiß ich es besser.

Wenn ich im Jobcenter ein Termin habe, dann sehe ich nur selten den typischen Klischee-Hartzer. Ich sehe vor allem junge Erwachsene, die nach der Ausbildung keinen Arbeitsplatz gefunden haben. Ich sehe ältere Arbeitnehmer, die über 30 Jahre lang gearbeitet haben und deren Arbeitsplätze wegrationalisiert wurden, und nun zu alt sind, um noch vermittelt zu werden. Ich sehe Universitätsabsolventen, die noch auf ihren Berufseinstieg warten. Und ich sehe Verkäufer, Mechaniker, Bäcker, Metzger, Floristen uvm.,  die darauf warten, endlich wieder zu arbeiten. 

Dabei kann es heute jeden treffen. Ob nun der "Schlecker"-Frau, die nach der Pleite keine neue Anschlussverwendung gefunden hat, dem Verkäufer vom Praktiker-Baumarkt, dem keine Schuld an der falschen Marketingstrategie des Managements trifft,  dem Bäckermeister, der mit seiner kleinen Bäckerei nicht mehr mit den großen Filialketten mithalten konnte, weil wir es alle eben billig haben wollen oder eben dem Universitätsabsolventen, der als Berufseinsteiger bereits zehn Jahre Erfahrung haben soll.

Und so gibt es immer wieder einige, die durch das Netz fallen, egal ob sie gut arbeiten oder nicht. Es kann jeden treffen, niemand kann davor sicher sein.  Ich habe es selbst erfahren.


Quelle

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