Sunday, 5 May 2013

Zur psychosozialen Lage in Deutschland



Wir sind Fachleute, die Verantwortung für die Behandlung seelischer Erkrankungen und den Umgang mit psychosozialem Leid in unserer Gesellschaft tragen. Wir möchten unsere tiefe Erschütterung über die psychosoziale Lage unserer Gesellschaft zum Ausdruck bringen. In unseren Tätigkeitsfeldern erfahren wir die persönlichen Schicksale der Menschen, die hin­ter den Statistiken stehen.
Seelische Erkrankungen und psychosoziale Probleme sind häufig und nehmen in allen In­dustrienationen ständig zu.

Circa 30 % der Bevölkerung leiden innerhalb eines Jahres an einer diagnostizierbaren psychischen Störung. Am häufigsten sind Depressionen, Angststörungen, psychosomatische Erkrankungen und Suchterkrankungen. Der Anteil psychischer Erkrankungen an der Arbeitsunfähigkeit nimmt seit 1980 kontinuierlich zu und beträgt inzwischen 15 – 20 %. Der Anteil psychischer Erkrankungen an vorzeitigen Berentungen nimmt kontinuierlich zu. Sie sind inzwischen die häufigste Ursache für eine vorzeitige Berentung.

Psychische Erkrankungen und Verhaltensprobleme bei Kindern und Jugendlichen nehmen kontinuierlich zu. Psychische Störungen bei älteren Menschen sind häufig und nehmen ständig zu.
Nur die Hälfte der psychischen Erkrankungen wird richtig erkannt, der Spontanverlauf ohne Behandlung ist jedoch ungünstig: Knapp 1/3 verschlechtert sich und knapp die Hälfte zeigt keine Veränderung, chronifiziert also ohne Behandlung.

In allen Altersgruppen, bei beiden Geschlechtern, in allen Schichten und in allen Nationen zunehmenden Wohlstands nehmen seelische Erkrankungen zu und besitzen ein besorgniser­regendes Ausmaß. Die gesellschaftlichen Kosten der Gesundheitsschäden durch Produktivitätsausfälle, medizi­nische und therapeutische Behandlungen, Krankengeld und Rentenzahlungen sind enorm. Eine angemessene medizinische und therapeutische Versorgung ist weltweit nicht möglich. Trotz der kontinuierlichen Zunahme an psychosozialen medizinischen Versorgungsangebo­ten ist die Versorgung auch in Deutschland angesichts der Dynamik und des Ausmaßes der seelischen Erkrankungen nur in Ansätzen möglich.

Die Ursache dieser Problemlage besteht nach unseren Beobachtungen in zwei gesellschaftli­chen Entwicklungen:
  1. Die psychosoziale Belastung des Einzelnen durch individuellen und gesellschaftlichen Stress, wie z. B. Leistungsanforderungen, Informationsüberflutung, seelische Verletzun­gen, berufliche und persönliche Überforderungen, Konsumverführungen, usw. nimmt ste­tig zu.
  2. Durch familiäre Zerfallsprozesse, berufliche Mobilität, virtuelle Beziehungen, häufige Tren­nungen und Scheidungen kommt es zu einer Reduzierung tragfähiger sozialer Beziehun­gen und dies sowohl qualitativer als auch quantitativer Art.
Die Kompetenzen zur eigenen Lebensgestaltung, zur Bewältigung psychosozialer Problem­lagen und zur Herstellung erfüllender und tragfähiger Beziehungen sind den Anforderungen und Herausforderungen dieser gesellschaftlichen Entwicklungen bei vielen Menschen nicht gewachsen.
Angesichts der vorherrschenden gesellschaftlichen Orientierung an materiellen und äußeren Werten werden die Bedeutung des Subjektiven, der inneren Werte und der Sinnverbunden­heit dramatisch unterschätzt.

Wir benötigen einen gesellschaftlichen Dialog über die Bedeutung des Subjektiven, des See­lischen, des Geistig-spirituellen, des sozialen Miteinanders und unseres Umgangs mit Problemen und Störungen in diesem Feld. Wir benötigen einen neuen Ansatz zur Prävention, der sich auf die grundlegenden Kompe­tenzen zur Lebensführung, zur Bewältigung von Veränderungen und Krisen und zur Ent­wicklung von tragfähigen und erfüllenden Beziehungen konzentriert. Wir benötigen eine Gesundheitsbildung, Erlernen von Selbstführung und die Erfahrung von Gemeinschaft schon im Kindergarten und in der Schule, z. B. in Form eines Schulfaches "Gesundheit".
Wir benötigen eine ganzheitliche, im echten Sinne psychosomatische Medizin, die die ge­genwärtige Technologisierung und Ökonomisierung der Medizin durch eine Subjektorientie­rung und eine Beziehungsdimension ergänzt.

Wir benötigen eine Wirtschaftswelt, in der die Profit- und Leistungsorientierung ergänzt wird durch eine Sinn- und Lebensorientierung für die Tätigen. Wir benötigen einen integrierenden, sinnstiftenden und soziale Bezüge erhaltenden Umgang mit dem Alter. Wir benötigen eine das Subjektive und Persönliche respektierende, Grenzen achtende und Menschen wertschätzende Medienwelt. Wir benötigen ein politisches Handeln, das bei seinen Entscheidungen die Auswirkungen auf das subjektive Erleben und die psychosozialen Bewältigungsmöglichkeiten der Betroffenen reflektiert und berücksichtigt. Wir benötigen mehr Herz für die Menschen.

Quelle

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