Jens Berger
31. Oktober 2012
Nach weitverbreiteter Vorstellung ist Deutschland ein Sozialstaat, in dem der Staat dafür Sorge trägt, dass kein Mensch unter einem menschenwürdigen Existenzminimum leben muss. Die deutsche Sozialgesetzgebung und deren Auslegung durch die Bundesanstalt für Arbeit sehen dies jedoch anders. Hält sich ein Hilfsbedürftiger nicht an die Regeln der Bundesanstalt, können im Einzelfall sogar sämtliche staatlichen Leistungen gestrichen werden. Dann verbleiben den betroffenen Bürgern nur noch Sachleistungen wie Lebensmittelgutscheine im Wert von 172 Euro pro Monat. Wie kaum anders zu erwarten, gibt es auch Profiteure dieser Regelungen –
Profiteure, die weit davon entfernt sind, selbst in existenzielle
ökonomische Not zu geraten, nämlich die Arbeitgeber.
[...]
Die Gewährung von Sachleistungen liegt im Ermessen des zuständigen
Sachbearbeiters, lediglich Alleinerziehende haben einen ermessensfreien
Anspruch auf Sachleistungen. Sanktionen sind keine Ausnahmeerscheinung –
alleine im letzten Jahr wurden 520.792 Sanktionen gegenüber
Hilfsbedürftigen ausgesprochen.
Der Grad der Sanktionierung reicht dabei von einer kurzfristigen Kürzung
der Bezüge um 10% bei Meldeversäumnissen bis zur vollständigen
Einstellung aller Leistungen bei wiederholten Pflichtverletzungen. Bei
Hilfsbedürftigen unter 25 Jahren reicht indes bereits ein einziger
Pflichtverstoß für eine vollständige Streichung des Regelsatzes. Im
Jahre 2008 wurde in über 97.000 Fällen diese Maximalsanktion gegenüber jungen Mitbürgern ausgesprochen – fast
10% der Hilfsbedürftigen in dieser Altersgruppe werden mindestens einmal
pro Jahr sanktioniert. Von Ausnahmen, die die Regel bestätigen, kann
daher nicht mehr die Rede sein. Jede Sanktionierung stellt de facto
einen Eingriff in die Unantastbarkeit der Menschenwürde dar, führt sie
doch dazu, dass der Sanktionierte für einen bestimmten Zeitraum
unterhalb des Existenzminimums leben muss.
Wer ein Opfer der Sanktionen wird, muss damit rechnen, seinen
Lebensunterhalt in der sanktionierten Zeitspanne nicht aufbringen zu
können. Rechnungen können nicht bezahlt, Nahrungsmittel nicht gekauft
werden – im Extremfall droht Obdachlosigkeit, da auch das Wohngeld
einbehalten wird. Krankenversichert sind diese Sanktionsopfer dann auch
nicht mehr, im Falle eines Unfalls droht so die Überschuldung. Natürlich
ist jeder für sich selbst verantwortlich und niemand ist gezwungen, den
Anweisungen der Ämter keine Folge zu leisten. Dies hat allerdings zur
Folge, dass wir nicht mehr in einem Sozialstaat leben, der das
Existenzminimum seiner Bürger „gewährleistet“, sondern in einem
Sanktionsstaat, der aufmüpfige Mitbürger der Obdachlosigkeit und dem
Hunger preisgibt.
[...]
Der Grund, warum der Arbeitsmarkt im unteren Lohnbereich gar nicht
funktionieren kann, ist die Sanktionierungspraxis. Wenn ALG-II-Empfänger
frei entscheiden könnten, ob und zu welchen Bedingungen sie ein
Arbeitsangebot annehmen, wäre ALG II eine Art Bürgergeld oder auch
Grundeinkommen – allerdings kein bedingungsloses Grundeinkommen, das
jedem Bürger, unabhängig von seiner ökonomischen Situation, zusteht.
Wer Arbeitskräfte im unteren Lohnsektor nachfragt, müsste dann schon
etwas tiefer in die Tasche greifen, um einen Anbieter von Arbeitskraft
zu finden. Die Sanktionspraxis ist also das verschärfte Drohpotential
zur Durchsetzung des Niedriglohnes. Ohne Niedriglohnsektor würden
allerdings auch die Löhne im mittleren Lohnsektor anziehen müssen. Dies
ist auch der Grund, warum der Wunsch nach einer Streichung der
Sanktionen auf massiven Widerstand in der Politik und vor allem der
Wirtschaft stößt.
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