Hartz IV - der Menschenabfall
09.10.2012
Seit August 2005 bin ich Beschäftigte in der Hartz-IV-Maschine mit
täglichem Kundenkontakt. Häufig schon wurde ich von Freunden und
Bekannten aufgefordert, meine Erfahrungen einem größeren Publikum
öffentlich zu machen. Vor wenigen Tagen hatte ich damit begonnen, erste
Stichworte und Überschriften zu Papier zu bringen. Eine der
Überschriften lautet: „Die Toten aus der Maschine“. Gemeint ist die
Hartz IV-Bürokratie, die Hartz IV-Maschine.
Am 26. September
2012 war es soweit. Eine Mitarbeiterin des Jobcenters Neuss wurde von
einem ihrer „Kunden“ tödlich mit einem Messer verletzt. Die Reaktion der
Bundesagentur für Arbeit war symptomatisch: Übergriffe in Behörden
kämen leider immer wieder vor, sagte die Sprecherin der Bundesagentur
für Arbeit (BA), Ilona Mirtschin. "Es sind Einzelfälle, die hohe mediale
Aufmerksamkeit erregen. Das ist nichts, was spezifisch für Jobcenter
ist." In einigen Jobcentern und Arbeitsagenturen würden externe
Sicherheitsdienste beschäftigt, die im Falle eines Konflikts
einschreiten könnten. Die BA biete Mitarbeitern, die regelmäßig in
Kontakt mit Kunden sind, spezielle Deeskalationstrainings an. Für mich
kam es nicht überraschend, dass am 26. September 2012 eine meiner
Kolleginnen durch einen ihrer „Kunden“ zu Tode kam. Anders als es die
Bundesagentur für Arbeit durch ihre Sprecherin verlauten ließ, liegt die
Ursache dafür in der Struktur, im System, in der Organisation der
Verwaltung des „Menschenabfalls“. Jenes Menschenabfalls, der in den
Jobcentern zu nützlichen Mitgliedern für die Gesellschaft recycelt
werden soll. Dabei wird über Leichen gegangen, nicht nur im übertragenen
Sinne, sondern im Wortsinn.
Die Ursache liegt in der
Struktur der Gewalt, die gegen Hartz IV Leistungsberechtigte wie gegen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern täglich, stündlich,
ja minütig ausgeübt wird
Die getötete Kollegin ist nicht die
erste Tote aus der Maschine. Und die Ursache liegt in der Struktur der
Gewalt, die gegen Hartz IV Leistungsberechtigte wie gegen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern täglich, stündlich,
ja minütig ausgeübt wird. Eine Gewalt, die von den Mächtigen, den
Besitzenden ausgeht, wobei die Politik nichts anderes ist als ihre
bezahlte Hure. Der Begriff des „Menschenabfalls“ begegnete mir in
Zygmunt Baumans Veröffentlichung „Flüchtige Zeiten, Leben in der
Ungewissheit“ aus dem Jahre 2008. Er bezieht sich darin auf Menschen,
die in verschiedenen Lebenssituationen an den Rand oder aus der
Gesellschaft heraus gedrängt werden: „Solange es möglich ist, den
Bevölkerungsüberschuss (den Teil, der nicht in die `normale´
Gesellschaft reintegriert und nicht für die Aufnahme in die Kategorie
der `nützlichen´ Gesellschaftsmitglieder wiederaufbereitet werden kann)
regelmäßig aus einem bestimmten Gebiet zu entfernen, innerhalb dessen
ein ökonomisches und soziales Gleichgewicht angestrebt wird, sind
Menschen, die dem Abtransport entgangen sind und in dem betreffenden
Gebiet verbleiben, für das `Recycling´ beziehungsweise für die
`Rehabilitation´ vorgesehen. Sie sind nur vorübergehend `draußen´, der
Zustand ihrer Exklusion ist eine Abnormität, die ein Heilmittel und eine
Therapie verlangt; man muss ihnen auf jeden Fall helfen, so schnell wie
möglich wieder `hinein´zukommen. Sie sind das `Ersatzheer an
Arbeitskräften´ und müssen in Form gebracht und erhalten werden, so dass
sie bei nächster Gelegenheit in den aktiven Dienst zurückkehren können.
(…) Je länger die `überflüssige´ Bevölkerung im Land bleibt und mit dem
`nützlichen´ (…) Rest in Berührung kommt, desto weniger kann die
beruhigende Eindeutigkeit der Trennlinien zwischen `Normalität´ und
`Abnormität´ zwischen vorübergehender Untauglichkeit und der endgültigen
Zuordnung zum `Abfall´ aufrechterhalten werden. Dem `Abfall´ zugeordnet
zu werden kann nicht mehr, wie zuvor, als Schicksal wahrgenommen
werden, das auf einen relativ kleinen Teil der Bevölkerung beschränkt
ist, sondern wird zu etwas, das jeden treffen kann. (…) Die gewohnten
Werkzeuge und Interventionsstrategien (…) sind zu schwach und kaum
geeignet, um dieser neuen Form des `Abfallproblems´ zu begegnen.“
Man
erinnert sich unweigerlich an Gerhard Schröders vollmundige Ankündigung
der Agenda 2010, an die medienwirksame Inszenierung der Überreichung
des Datenträgers (auf dem die Hartz-Gesetze abgespeichert waren) von
Peter Hartz an den Kanzler. Vollmundig erklärte der Kanzler im
Blitzlichtgewitter der Pressefotografen, das Ersatzheer an
Arbeitskräften werde mit Hartz IV in Form gebracht, um bei dem zu
erwartenden Aufschwung dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen zu können.
Sozialhilfe (für Erwerbsfähige) und Arbeitslosenhilfe wurden
zusammengefasst zu einer neuen Leistung: Arbeitslosengeld II, offiziell
„Grundsicherung für Arbeitsuchende“ gerne auch „Hartz IV“ genannt.
Tatsächlich handelt es sich bei einem Großteil der Leistungsempfänger
von Arbeitslosengeld II um Menschen, die aus verschiedenen Gründen gar
nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen (können oder wollen), oder
um Beschäftigte, die einen Hungerlohn erhalten und aufstockend
Leistungen beziehen.
Generelle Bezeichnung "Langzeitarbeitslose" irreführend
Empfänger
von Arbeitslosengeld II generell als Langzeitarbeitslose zu bezeichnen,
wie in weiten Teilen der Medien und in Sonntags-Talkauftritten von
Politikern üblich, ist irreführend. Nur ein geringer Teil der
Leistungsberechtigten gerät allein deswegen in den fragwürdigen Genuss
von Hartz IV-Leistungen, weil er zuvor gearbeitet hat, arbeitslos wurde
und nach 12 bis 18 Monaten sein Arbeitslosengeld I ausgelaufen ist und
der Arbeitslose noch nicht wieder „recycelt“ werden konnte. Im Rahmen
der Agenda 2010 wurde die Zeitarbeit (auch Leiharbeit oder
Arbeitnehmerüberlassung genannt) ausgebaut. Rot-Grün senkte die
Steuersätze für Spitzenverdiener und brachte mit Rentenreform und
Riester-Rente eine Sozialkürzung ungeahnten Ausmaßes über das Land.
Dinge, die heute im Jahre 2012, im aktuellen Vorwahlkampf auf die
Bundestagswahl 2013 von den SPD-Oberen angeprangert werden als seien sie
des Teufels und nicht die Ausflüsse ihrer eigenen, früheren Politik.
Der „Basta-Kanzler“, der „Kanzler der Bosse“ hat sich bei seinem
jahrzehntelangen Marsch durch die Institutionen korrumpiert.
Selbstgefällig und narzisstisch ließ er seinen Allerwertesten auf dem
Sessel im Kanzleramt nieder, beseitigte mit Oskar Lafontaine den letzten
Makroökonom aus dem Kabinett, posierte nebenberuflich im Designeranzug
und mit Imponierzigarre im Wochenmagazin „Stern“, und ließ sich fortan
vom Kapital durch die Manege treiben um sich am Ende seiner politischen
Karriere vom Musterdemokraten und russischen Neuzaren Wladimir Putin auf
einen noch bequemeren Sessel als den im Kanzleramt hieven zu lassen:
ein Beratersessel bei Gazprom.
Nachdem die Bundestagswahl im
Herbst des Jahres 1998 Rot-Grün als Sieger hervorbrachte, ich befand
mich gerade am Ende meines Studiums der Sozialarbeit, jubelten die
Professoren und nebenberuflich Lehrenden an meiner Fachhochschule: jetzt
wird alles besser, sozialer, gerechter. Auf meinen Einwand und meine
Prognose hin, dass all jene sozialen Grausamkeiten, die von einer
Kohl-Regierung gegen eine starke SPD-Opposition im Bund und Mehrheit im
Bundesrat bis dato nicht durchsetzbar waren, in Kürze aber mit Kanzler
Schröder kommen würden, erntete ich von den „Experten“ nur ungläubiges
Kopfschütteln. Leider behielt ich recht.
Nun wird immer wieder
versichert, die Reformen seien unverzichtbar gewesen und hätten die
Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gesichert. Man stehe heute im
internationalen Vergleich wirtschaftlich und die Arbeitsmarktstatistik
(per Gesetz und dienstlicher Anweisungen manipuliere ich diese Statistik
täglich) betrachtend besser da als vor den Reformen, besser da als
Länder, die diese Reformen bislang versäumt hätten: Frankreich,
Griechenland, Spanien etc. Durch alle Medien, über alle Kanäle wird
diese Botschaft beständig auf die Bevölkerung abgeschossen. Wer dem
nicht folgt, der wird als Antidemokrat, als Antieuropäer diffamiert.
Doch das ist die Realität: Der Rückzug der Politik von der Macht, ihre
Selbstentmachtung, und die damit einhergehende Machtübernahme durch das
Kapital (also durch die wirtschaftlich Mächtigen und global Handelnden)
presst in immer unverhohlener Weise das sogenannte Humankapital aus. Die
Konzentrierung des Reichtums in wenigen Händen und die Umverteilung des
gesamtgesellschaftlichen Reichtums nach oben lassen das Heer des
„Menschenabfalls“ global anwachsen. Die dem kapitalistischen System
immanente Expotentialfunktion des Wachstums und sein Zinssystem führen
zu immer neuen Übernahmeschlachten. Übernommen werden dabei aber
mittlerweile nicht bloß andere Unternehmen sondern ganze
Volkswirtschaften.
Hartz IV ist ein Baustein, ein Instrument zum Machterhalt der Besitzenden
Die
aktuelle Entwicklung in Europa, bei der ein Rettungsschirm den nächsten
jagt und die Europäische Zentralbank bereits den unbegrenzten Ankauf
von Staatsanleihen ausgerufen hat, all dies bloß um angeblich die Märkte
zu beruhigen, zeigt die unendliche Gier des Dämons Mammon. Der
entfesselte Kapitalmarkt hat nun auch mit den von den Regierungen zu
leistenden Bürgschaften endlich Zugriff auf das Steuereinkommen der
Nationalstaaten, insbesondere Deutschlands als derzeit potentestem
Bürge. Er diktiert, wo es lang geht: Lohnkürzungen und Sozialabbau in
den Ländern, die unter den Schutz der Rettungsschirme flüchten wollen
oder müssen. Es stellt sich nicht lange die Frage, wann auch dieser
fette Happen Kapitals für die meisten schmerzhaft, für die Besitzenden
aber gewinnbringend verschlungen, verdaut und in Form von weiteren
Einschränkungen der Menschenrechte ausgeschissen sein wird.
Die
Kapitulation der Politik vor den wirtschaftlich Mächtigen konnte nicht
treffender auf den Punkt gebracht werden als unlängst im Morgenmagazin
des öffentlich rechtlichen Fernsehens durch den Auftritt eines
FDP-Politikers, immerhin Mitglied des Bundestags. Befragt zu den
Entscheidungen des Bundestags im Zusammenhang mit den
Euro-Rettungsschirmen gab er zu, die wenigsten Politiker würden die
Dinge in ihrer Komplexität verstehen. Er selbst nehme sich da nicht aus,
anderenfalls säße er ja (besser bezahlt) in den Schaltzentralen der
Banken.
Hartz IV ist ein Baustein, ein Instrument zum
Machterhalt der Besitzenden, zur Zementierung der wirtschaftlichen
Ungerechtigkeit und Ungleichheiten, davon bin ich heute nach sieben
Jahren der Mitarbeit in der Hartz IV-Maschine überzeugt. So wie es die
IWF-Toten bei Unruhen gibt, wenn die Regierungen armer Länder gezwungen
werden, die Lebensmittelpreise freizugeben und ihre Ordnungskräfte auf
die Protestierenden schießen lassen, so wie es die Monsanto-Toten gibt,
weil der indische Reisbauer durch zu kaufendes Saatgut und dazu passende
Pestizide krank und überschuldet lieber den Freitod wählt, so gibt es
die Toten aus der Hartz IV-Maschine: Menschen, denen in ihrer
Verzweiflung nichts besseres einfällt, als sich selbst oder andere zu
töten. Dem Täter aus Neuss musste klar gewesen sein, dass er durch seine
Tat nicht nur das Leben eines anderen sondern letztlich auch sein
eigenes kleines und (von den Mächtigen) beschissenes Leben zerstören
würde. Er hatte in dieser Weltordnung keine Chance, und meine Kollegin
leider auch nicht.
Quelle
Es ist nicht einfach, das Thema aufzugreifen.
Das Hartz-IV-System ist
so menschenfeindlich, dass dramatische Folgen nicht ausbleiben.
Wie zynisch ist es, wenn man daran denkt, dass Ursuala von der Leyen
2010 im Zusammenhang mit der Einführung der Bürgerarbeit sagte: ”
Erfahrungsgemäß könnten vier von fünf Arbeitslosen auf diese Weise
vermittelt werden oder verzichteten freiwillig auf Regelleistungen.”
Weil uns immer wieder Hinweise zugeschickt werden auf die Fälle, wo
Menschen in-/oder in Folge von- Hartz-IV gestorben sind, sollen diese
hier auch veröffentlicht werden.
Quelle
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