Warum werden aus so vielen lernbegierigen Kindern in wenigen Jahren
Schulschwänzer und Klassenclowns? Weil unsere Schulen nur noch
Lernfabriken sind, die Schüler und Lehrer verbiegen.
Alan PosenerAm Samstag konnte man sie in Berlin wieder auf den Straßen sehen: die kleinen Kinder mit ihren großen Schultüten und den noch größeren Augen. Mir wird immer etwas weh ums Herz, wenn ich die Erstklässler auf dem Weg zur Einschulung sehe. Sie sind so freudig aufgeregt, so stolz, so lernbegierig. Und binnen weniger Jahre, oft noch viel, viel schneller, wird die Schule es schaffen, aus so vielen von ihnen Problemkinder zu machen: Demotivierte, Faule, Schulschwänzer, Klassenclowns, Mathehasser, Sportversager, Unmusikalische und so weiter.
Man kritisiert
die Schule oft als Lernfabrik. Aber eine Fabrik, die so viel Ausschuss
produziert, hätte man längst geschlossen, statt sie zu subventionieren,
wie wir es tun. Genau das empfiehlt übrigens der dänische Moralphilosoph
und Erziehungsratgeber Jesper Juul. Die Schulen sollte man fünf Jahre
lang schließen und den Lehrern die Möglichkeit geben, das zu lernen, was
ihnen bisher niemand beigebracht habe: wie man mit Schülern, Eltern,
Vorgesetzten und miteinander redet.
Daran musste ich denken, als
mir eine Schulsekretärin erzählte, was sie nach dem ersten richtigen
Schultag der Kleinen am Montag erlebte. Die aus den Klassen kommenden
Lehrerinnen fragte sie, wie es gewesen sei, was sie gemacht hätten.
Die erste
antwortete: "Es war schön. Wir haben gesungen und gemalt. Ich bin völlig
erledigt, aber glücklich." Die zweite: "Na, Unterricht habe ich
gemacht. Die sollen gleich merken, dass Schule Stress bedeutet." Die
dritte: "Das Schlimme ist, wir geben die nach zwei oder drei Jahren ab,
da sind sie halbwegs zu Menschen geworden, und dann kriegen wir wieder
diese Monster und müssen von vorn anfangen."
Man kann davon
ausgehen, dass eine Lehrerin, die den Kindern beibringen will, dass
Schule Stress bedeutet, ihr Lehrziel sehr schnell – vielleicht schon am
ersten Tag – erreichen wird, und dass die Schüler ihr auch immer Stress
machen werden. Man kann davon ausgehen, dass eine Lehrerin, die Monster
erwartet, auch immer wieder Monster bekommen wird. Und dass nicht nur
viele Kolleginnen, sondern auch viele Eltern ihr recht geben werden.
Die zwei erfolgreichsten Erziehungsbücher der letzten fünf Jahre waren:
Wer Kindern als potenzielle Tyrannen begegnet, denen nur mit Disziplin
beizukommen ist, wird nicht enttäuscht. Entweder werden ihm die Kinder
auf der Nase herumtanzen, oder er wird sie mit Angst in Schach halten.
Dass es
grundsätzlich anders ginge, wird er weder in dem einen noch in dem
anderen Fall erfahren. Und bald kommt auch Ursula Sarrazin mit ihrem
Buch "Hexenjagd", mit dem sie bestimmt vielen Lehrerinnen aus dem Herzen
spricht. "Wir Lehrer können nicht alle gesellschaftlichen Defizite
beheben", schreibt sie. "Schule ist damit überfordert."
Gewiss doch.
Freilich musste Schule immer schon "gesellschaftliche Defizite beheben",
sonst wäre sie zwar nicht überfordert, aber überflüssig. Freilich muss
die Gesellschaft die Defizite beheben, die erst die Schule hervorgerufen
hat: Lernunlust, Leistungsscheu, Wissenslücken, mangelndes
Selbstvertrauen, Hass auf Autoritäten. Wer Kinder als potenzielle Träger
gesellschaftlicher Defizite sieht, wird ja auch nicht enttäuscht. Oder
wie es das deutsche Sprichwort weiß: Wie man in den Wald hineinruft, so
schallt es heraus.
Die Kinder, die ich am
Samstag sah, sind nicht defizitär. Sie sind keine kleinen Tyrannen.
Möglicherweise sind sie nicht alle so, wie sie die Schule gern hätte.
Aber das spricht nicht notwendig gegen die Kinder. Und auch nicht gegen
die Lehrer. Die Schule macht sie genau so fertig wie die Kinder, mit
denen sie eingesperrt werden. Sie sind, um die Fabrik-Analogie noch
einmal zu bemühen, wie Arbeiter, die ein Auto bauen sollen, aber weder
einen Plan noch Werkzeug haben. Denn Lehrpläne sagen etwas übers Fach
aus, nichts über Kinder.
Ab und zu aber
gibt es eine Sternstunde. So sagte ein Junge nach seinem ersten
Schultag: "Das war ganz nett. Ich komme morgen wieder." "Das freut
mich", sagte die Lehrerin. Und sie meinte es auch so.
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